Duisburg Forensik: keine Chorknaben, aber Menschen

Duisburg · In der Forensik in Rheinhausen leben 100 Männer, die unter dem Einfluss von illegalen Drogen Straftaten verübt haben. Sie erleben Freiheitsentzug und Therapie zugleich. Weihnachten feiern sie; einige werden nachdenklich.

 Mario (links) und Jörg werden Weihnachten im Therapiezentrum in Hohenbudberg verbringen.

Mario (links) und Jörg werden Weihnachten im Therapiezentrum in Hohenbudberg verbringen.

Foto: christoph Reichwein

Sie alle haben Straftaten verübt und wurden von der Polizei festgenommen und später von einem Richter zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Die meisten von ihnen haben schon "Knasterfahrung". Doch alle bekamen sie vom Richter eine Chance: Sie müssen ihre Strafen nicht vollständig im Gefängnis verbüßen; vielmehr werden sie "in der Forensik" untergebracht, die in Rheinhausen "Niederrhein Therapiezentrum Duisburg" (NTZ) heißt. Dort leben 100 Männer in verschiedenen Gebäudetrakten. Bei der Gerichtsverhandlung stellte sich bei allen heraus, dass ihre Straftaten unter Einfluss von illegalen Drogen verübt wurden. Deshalb lautete der Richterspruch: Forensik statt Gefängnis.

Während die Männer im Gefängnis zu "Insassen" werden, nennt man sie in der forensischen Klinik "Patienten". "Bei uns steht die Therapie im Vordergrund, nicht der Strafvollzug", sagt dazu Andrea Piccenini von der Geschäftsführung des NTZ. Die Sicherheitsvorkehrungen gleichen dennoch denen eines Gefängnisses: Alle Türen sind abgeschlossen. Der Eingangsbereich ist mehrfach gesichert. Selbst die NTZ-Angestellten, die Schlüssel für alle Türen im Haus besitzen, können die letzte Tür, die nach draußen, "in die Freiheit", führt, nicht ohne die Hilfe anderer Angestellten öffnen, die separiert und eigens abgesichert in einem Vorraum sitzen. Kein Fenster kann so weit geöffnet werden, dass ein Mensch durchschlüpfen könnte. Das gesamte Gelände ist umzäunt.

 Mike (im Vordergrund) hat gelernt, Karten zu drucken. Die Forensik sieht er als Chance, demnächst "draußen" wieder Fuß zu fassen. Seine Frau und seine Familie stehen hinter ihm.

Mike (im Vordergrund) hat gelernt, Karten zu drucken. Die Forensik sieht er als Chance, demnächst "draußen" wieder Fuß zu fassen. Seine Frau und seine Familie stehen hinter ihm.

Foto: Christoph Reichwein (crei)

All das sollte man wissen, wenn man beispielsweise mit Mike, Mario oder Jörg spricht. Die drei leben schon seit Monaten im NTZ, haben dort schon einmal Weihnachten erlebt. Und alle drei sagen, dass sie ihren Aufenthalt in der Forensik als Riesenchance sehen, "um aus dem ganzen Scheiß von früher rauszukommen", wie es Jörg formuliert. Und alle wissen, was der Paragraf 64 des Strafgesetzbuches für sie bedeutet: Danach soll an Stelle einer Gefängnisstraße nur dann die Forensik für drogenabhängige Straftäter offenstehen, wenn "konkrete Aussicht auf Heilung" besteht. Mike, Mario und Jörg haben diese Aussicht. Jörg weiß sich gut auszudrücken. Wer sich mit ihm unterhält, hat den Eindruck, mit einem Therapeuten zu sprechen.

"Wir sind aus eigener Erfahrung Spezialisten für Drogenabhängigkeit", sagt er. Im Blick auf sein eigenes Leben und die Biografien seiner Mit-Patienten sagt er: "Wir sind alle keine Chorknaben, aber doch Menschen." Das ist der Zeitpunkt, um vorsichtig zum Thema Weihnachten zu kommen. Freuen sich Mike, Mario und Jörg auf dieses Fest oder haben sie Angst vor diesen Tagen, die mit Familiensinn, Gemeinsamkeit und viel Gefühl verbunden werden?

Die Freude auf die Tage überwiegt bei allen. Mike, der im NTZ beispielsweise gelernt hat, Karten zu drucken, spürt gerade in diesen Tagen, dass seine Frau und die Familie hinter ihm stehen, trotz seiner Taten unter Drogeneinfluss. Mit der Vorschrift, dass die Patienten nur dreimal im Monat für jeweils maximal zwei Stunden Besuch bekommen dürfen, muss er leben. Der katholische Mario, der auf den Philippinen geboren wurde, mag die Besinnlichkeit dieser Tage, obwohl er im Rückblick auch mal wehmütig wird. Im vergangenen Jahr hat er für die Taifun-Opfer in seiner Heimat Geld von seinen Mit-Patienten gesammelt. Die haben gespendet, obwohl jeder höchstens 136 Euro im Monat Taschengeld einschließlich Arbeitslohn bekommt. Jörg, von Gestalt ein Hüne, freut sich ebenfalls auf die Stunden, in der alle von der Alltagsarbeit in der Schreinerei, der Buchbinderei, der Schneiderei und Schlosserei befreit sind. Weihnachten ist für Jörg auch deshalb eine schöne Zeit, weil er dann mal wieder für andere singen kann. Er soll eine sehr gute Stimme haben, wird allseits versichert.

Weihnachten ist eine Zeit, in der Iris Moll besonders gefordert ist. Seit zwei Jahren arbeitet die evangelische Seelsorgerin im NTZ, das über fünf Stationen mit je 20 Plätzen verfügt, die jeweils in zwei Gruppen mit zehn Plätzen untergliedert sind. Iris Moll führt viele Einzelgespräche, hört dabei Dinge, die andere nicht zu hören bekommen. Im Gegensatz zu den anderen NTZ-Beschäftigten unterliegt sie einer absoluten Schweigepflicht. Das wissen die Patienten! Am Heiligen Abend bietet sie einen ökumenischen Gottesdienst an, der erfahrungsgemäß nicht von allen, aber von einem Drittel der Patienten besucht wird. Die Konfession spielt dabei keine Rolle; am Gottesdienst nehmen sogar Muslime teil, berichtet Iris Moll. "Ich spreche ein Gebet, mit dem sich alle identifizieren können; hier in der Forensik gelingt das Miteinander der Religionen", sagt sie.

Nach dem Gottesdienst treffen sich die Patienten in ihren Gruppen zum Abendessen. Die Patienten kochen selber und leisten den nötigen Küchendienst. Auf die Speisen für die Festtage hat man sich in der eigenen Gruppe zusammen mit der Nachbargruppe geeinigt. Die Klinikleitung hat für diese Tage etwas mehr Geld für den Lebensmitteleinkauf spendiert. Heiligabend gibt es Steak, am Ersten Weihnachtstag Gulasch mit verschiedenen Gemüsesorten und am zweiten Feiertag Putenbraten.

Alkohol ist im NTZ natürlich verboten. Nach dem Essen wird geplaudert, gespielt oder zusammen Fernsehen geschaut. So, wie es viele Menschen "draußen" zu Weihnachten auch tun.

(RP)
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