Erste Forschungsergebnisse Wie Analphabetismus in NRW überwunden werden soll

Duisburg · Circa 6,2 Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben. Ein Forschungsnetzwerk soll in NRW klären, wie sich diese Zahl verringern lässt. Das sind die ersten Erkenntnisse.

 Ein Analphabet schreibt in Köln Sätze zur Übung in ein Schulheft. Schätzungen zufolge können in Nordrhein-Westfalen rund 1,36 Millionen Menschen nicht richtig lesen und schreiben (Symbolbild).

Ein Analphabet schreibt in Köln Sätze zur Übung in ein Schulheft. Schätzungen zufolge können in Nordrhein-Westfalen rund 1,36 Millionen Menschen nicht richtig lesen und schreiben (Symbolbild).

Foto: dpa/Oliver Berg

Darüber, wie viele Menschen in Deutschland nicht richtig lesen und schreiben können, existieren nur Schätzungen. 6,2 Millionen Menschen sollen es demzufolge aktuell sein, grob also jeder zehnte erwachsene Einwohner. Damit sich diese Zahl in den kommenden Jahren merkbar verringert, hat sich 2020 ein NRW-Forschungsnetzwerk zur Alphabetisierung und Grundbildung gegründet. Am Mittwoch zogen die Beteiligten eine erste Zwischenbilanz und stellten ihre bisherigen Ergebnisse in der Volkshochschule Duisburg vor.

„Mit dem Forschungsnetzwerk hat Nordrhein-Westfalen ein Alleinstellungsmerkmal. Das gibt es so in keinem anderen Bundesland“, sagte Michael Schemmann. Er ist Professor für Erwachsenenbildung und Weiterbildung an der Universität Köln, die sich für das Kooperationsprojekt mit der Universität Duisburg-Essen und dem Deutschen Institut für Erwachsenenbildung in Bonn zusammengetan hat. Das Land fördert den Verbund noch bis 2023 mit rund 1,25 Millionen Euro.

Konkrete Zahlen konnte Schemmann am Mittwoch noch nicht nennen, allerdings erste Forschungsergebnisse. Während der Interviews mit Experten aus der Praxis hätten sich demnach vor allem zwei Erkenntnisse aufgedrängt. Zum einen, dass Alphabetisierung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei, bei der auch Vereine, Arbeitgeber oder soziale Dienste eine große Rolle spielen müssten. Zum anderen, dass es nicht bei einer reinen „Geh“-Struktur bleiben dürfe, bei der die Menschen die vorhandenen Angebote selbst entdecken sollen. „Wir müssen in die Stadtteile gehen und dort aufsuchen“, sagte Schemmann.

Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link verdeutlichte, was die geschätzten Zahlen alleine für seine Stadt bedeuten. „Circa 50.000 Menschen in Duisburg sind nicht alphabetisiert, das ist erschreckend“, sagte Link. Er sehe die Volkshochschule als wesentlichen Eckpfeiler, um Grundbildung zu ermöglichen und „Menschen zum Teil einer Gesellschaft werden zu lassen“. Denn ohne richtig lesen und schreiben zu können, sei auch aktive gesellschaftliche Beteiligung kaum möglich.

Dass es zum Lernen nie zu spät ist, ist nicht nur im Motto der Volkshochschulen verankert. Dass es hierfür praktische Beispiele gibt, betonte auch Duisburgs VHS-Direktor Volker Heckner. Er berichtete von einer jungen Duisburgerin, die 2017 aus dem kurdischen Teil des Iraks nach Deutschland kam. „Sie war nicht alphabetisiert, hatte keine Schulbildung“, sagte Heckner. 2018 habe sie zunächst einen Alphabetisierungskurs belegt, im Sommer werde sie wohl ihren Hauptschulabschluss erlangen. Solche Beispiele gebe es einige, betonte Heckner. In diesem Zusammenhang lobte er die Novellierung des NRW-Weiterbildungsgesetzes, durch die sich seit dem 1. Januar neue finanzielle und inhaltliche Möglichkeiten ergeben hätten. Auch um die Angebote der VHS offensiver zu bewerben.

Klaus Kaiser war als Staatssekretär im NRW-Wissenschaftsministerium an dieser Novellierung beteiligt. In Kombination mit der hohen wissenschaftlichen Expertise im Land sei das die Grundlage, um das Thema noch mehr in den Vordergrund zu rücken. Alphabetisierung sei ein eher stilles Thema. „Es ist nicht jeden Tag in den Schlagzeilen, aber es ist jeden Tag Praxis“, sagte Kaiser.

All das sei kein neues Problem, erklärten alle Beteiligten beim Pressegespräch. „Wir kümmern uns hier über die VHS seit 25 Jahren darum“, sagte Link. Das Ziel sei nun, den Fokus noch einmal neu zu setzen. „Wir müssen uns nicht nur um die 50.000 kümmern, wir müssen auch die Sensibilisierung am Beginn stärken.“ Denn auch die späteren Analphabeten hätten alle mal eine Schule besucht. „50 Prozent haben sogar einen Schulabschluss“, sagte Kaiser.

An der VHS Duisburg hat im vergangenen Jahr schon eine Sensibilisierungsschulung für Schulsozialarbeiter stattgefunden. Damit sie lernen, wie sie beispielsweise nicht-alphabetisierte Eltern gezielt ansprechen können, ohne zu stigmatisieren. Es sind solche Schritte, die dafür sorgen sollen, dass der Anteil der Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können, weiter sinkt.

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