Forschungslücke im Revier Schimi und Herbert Knebel als Bestandteil der Ruhrgebietsliteratur

Duisburg · Ein ungewöhnliches Kompendium zur Literatur im Revier orientiert sich an Knotenpunkten wie beim niederländischen Radwegenetz. Auch Duisburger Urgesteine sind dabei.

 Unvergessen: Götz George als Horst Schimanski.

Unvergessen: Götz George als Horst Schimanski.

Foto: dpa/Martin Athenstädt

Literaturgeschichten gibt es viele, aber der Band „Ruhrgebietsliteratur seit 1960“ ist wohl einzigartig. Zum einen schließt der 600-Seiten-Band eine Forschungslücke, denn bislang gab es keine systematische Darstellung der Literatur dieser Region. Zum anderen ist auch die Struktur des wissenschaftlichen Buches originell. Denn das Germanisten-Quartett Britta Caspers, Dierk Hallenberger, Werner Jung und Rolf Paar hat sich offenbar vom niederländischen Fahrradwegenetz inspirieren lassen. In unserem Nachbarland ist die Orientierung nach Knotenpunkten schon seit Jahren Praxis, eine Praxis, die sich mittlerweile auch am Niederrhein und zunehmend in anderen Regionen durchsetzt. Dabei fährt man mit dem Rad von einer Knotenpunkt-Zahl zur nächsten.

An jedem Knotenpunkt eröffnen sich Möglichkeiten für unterschiedliche Ziele. Wer mit dem Rad von A nach B fahren möchte, kann sich leicht anhand der Knotenpunkte orientieren. Man kann anhand der Knotenpunkte leicht die kürzeste Strecke finden, oder man kann einen verschlungenen, aber vielleicht landschaftlich schöneren Weg einschlagen.

Das Knotenpunkt-Prinzip hat das Autorenquartett nun auf die Geschichte der Ruhrgebietsliteratur übertragen. Dabei werden die Weichenstellungen, Umbrüche, Ereignisse und Entwicklungslinien literaturgeschichtlich in den Blick genommen.

Im Fokus des Bandes stehen Romane, Erzählungen, Gedichte, Theaterstücke, Krimis und Dokumentartexte mit ihren Bezügen zum Ruhrgebiet. Darunter Werke von Max von der Grün, Brigitte Kronauer, Nicolas Born oder auch Frank Goosen. Gemeinsam haben alle Autoren, dass sie entweder im Ruhrgebiet zu Hause waren, zur Zeit hier leben oder aus der Ferne über das „Revier“ schreiben.

Anders als bei Literaturgeschichten üblich geht das wissenschaftliche Autorenquartett nicht chronologisch vor. Rolf Parr: „Stattdessen haben wir einzelne Knotenpunkte festgemacht; Ereignisse, die eine besondere Strahlkraft nach außen hatten und die Ruhrgebietsliteratur beeinflusst haben.“

 Auch Uwe Lyko alias Herbert Knebel spielt in dem Buch eine Rolle.

Auch Uwe Lyko alias Herbert Knebel spielt in dem Buch eine Rolle.

Foto: mvo

Beschrieben und analysiert werden beispielsweise die Dortmunder Gruppe 61, die Literatur der Arbeitswelt im allgemeinen, die zunehmende Bedeutung der Literatur von Migranten oder der Erfolg der Regionalkrimis, wobei der Autor Jürgen Lodemann als Pionier dieses Genres besonders berücksichtigt wird.

Erstaunlich ist, dass neben Autoren im engeren Sinne auch Namen auftauchen, die man in einer Literaturgeschichte nicht erwartet. Nicht nur der einst sehr bekannte Humorist Jürgen von Manger, sondern auch fiktionale Typen beziehungsweise Rollen-Pseudonyme wie Herbert Knebel (verkörpert von Uwe Lyko) oder die Duisburger und Essener Tatortkommissare Horst Schimanski (Götz George) und Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) werden in dem Band zum Thema gemacht – als Pendant zur Ruhrgebietsliteratur.

Der Band ist das Ergebnis eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts. Eine Erkenntnis sei, so der Germanistikprofessor Rolf Parr, dass sich die Ruhrgebietsliteratur seit den 1960er Jahren bis heute stark im Hinblick auf ihre Leserschaft entwickelt habe.

Parr: „Anfangs richteten sich die Texte vor allem an das eigene Umfeld, zum Beispiel an andere Bergleute. Der Leserkreis war sehr begrenzt. Mit der Zeit interessieren sich aber immer mehr Menschen dafür, weit über das Revier hinaus.“

Auch die Genres veränderten sich. Weg von der dokumentarischen, realistischen Literatur (der Prototyp sind dabei die „Bottroper Protokolle“ von Erika Runge) hin zur Pop-Literatur, experimentellen Texten und Zukunftsszenarien.

Für große Veränderungen und Brüche sorgten die Zechenschließungen und der damit verbundene Strukturwandel in der Region. Trotzdem bleibe die Frage nach der Ruhrgebietsidentität. Germanist Parr gibt nach dem Blick in die Ruhrgebietsliteratur eine fast sentimentale Antwort: „Verschlägt es ihre Protagonisten nach Berlin, Düsseldorf oder München, so fühlen sie sich nach ihrer Rückkehr ins Revier immer besonders glücklich, wieder zu Hause zu sein.“

Britta Caspers, Dirk Hallenberger, Werner Jung, Rolf Parr: Ruhrgebietsliteratur seit 1960. Eine Geschichte nach Knotenpunkten. Verlag J.B. Metzler. 607 Seiten. Preis: 84,99 Euro, als eBook 66,99 Euro.

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