Kälteeinbruch „Die Straße ist rücksichtslos“

Duisburg · Für Obdachlose ist der Winter die gefährlichste Zeit des Jahres. Marcel Karniewski und Edgar „Edi“ Burchard berichten über die Schattenseiten ihres Lebens im Freien und fordern Hilfe von der Politik.

 Dieses Bild von Marcel Karniewski entstand Anfang dieses Jahres. Das Zeltlager, in dem er damals lebte, ist inzwischen abgebrannt.

Dieses Bild von Marcel Karniewski entstand Anfang dieses Jahres. Das Zeltlager, in dem er damals lebte, ist inzwischen abgebrannt.

Foto: Tim Harpers

Lässig schiebt Marcel Karniewski sein schwarzes Fahrrad über den kalten grauen Beton der Königsstraße. An seiner Seite läuft Edgar Burchard, genannt „Edi“. Mit seinen Händen schubst er einen rot-gelben Einkaufswagen vor sich her. Der Inhalt: Eine Stofftasche und drei Flaschen Bier. Die beiden Männer haben eines gemeinsam. Sie kennen das Leben als Obdachlose. Und dass sie überhaupt noch am Leben sind, ist großes Glück. Karniewski lebte jahrelang auf der Straße, sein guter Freund erst seit wenigen Wochen. Erst Anfang dieses Jahres hatten wir über Marcels gefährliches Leben in einem kleinen Zeltlager berichtet. Zum Schutz der Bewohner hatten wir dabei auf eine genaue Verortung verzichtet. Diese Sorgen waren berechtigt, wie sich nun unter Beweis stellte. Vor kurzem ist Marcels provisorisches Zuhause abgebrannt. Unbekannte hatten die Zelte mit Brandbeschleuniger getränkt und angezündet. Die Polizei ermittelt.

Karniewski hat an diesem Montagmittag überaus gute Nachrichten. Das Feuer hat ihn wachgerüttelt, ihn aus seiner Lethargie gerissen. Der 36-Jährige hat seit wenigen Tagen endlich ein Dach über dem Kopf. Nichts Großes. Zweieinhalb-Zimmer in Hochfeld, in denen er mit seiner Freundin wohnt. „Sie ist mein Fels, hat mich immer unterstützt, auch als ich Obdachloser war“, sagt Karniewski. Das ist nun vorbei. Das Jobcenter übernimmt die Kosten für die Unterkunft. Für den 36-Jährigen ein Segen. „Ich kann mich wieder rasieren, wieder duschen und habe einen sicheren Platz zum Schlafen“, sagt er. Sein früherer Chef hat ihm sogar seinen alten Job im Personenschutz wieder in Aussicht gestellt.

Die Aussichten sind also gut. Das Leben auf der Straße, mit all seinen zum Teil beängstigenden, aber auch einigen schönen Erfahrungen, lässt den angehenden Sicherheitsmann aber nicht los. Zu prägend seien die vergangenen Jahre für ihn gewesen. Zu anderen Obdachlosen hat er regelmäßig Kontakt. Auch sein guter Freund „Edi“, den er mit seinen noch immer bescheidenen Mitteln unterstützt so gut es geht, erinnert ihn ständig an die schwerste Zeit in seinem Leben. Edgar Burchard ist seit acht Wochen auf der Straße, weil ihn sein eigener Bruder aus dem Haus geworfen hat, wie er sagt. Der 64 Jahre alte Mann sei für ein Leben im Freien eigentlich nicht gemacht. Er müsse nach einem Schlaganfall Medikamente nehmen. Sein größtes Problem im Winter: einen Schlafplatz finden. „Ich schlage mich durch“, sagt er. „Eine Wohnung wäre toll, einfach ein Zimmer, irgendwo in Duisburg.“ Doch so eine Unterkunft zu finden, sei gar nicht so einfach. Wohnungen für eine Person, die den Anforderungen der Arge entsprechen, seien im Innenstadtbereich Mangelware.

Bis er also irgendwo sicher unterkommen kann, schläft er meistens im Hauptbahnhof. „Wir werden nachts oft von der Polizei geweckt und raus in die Kälte geschickt“, berichtet Burchard verärgert. „Immerhin sind die Wartehäuser an den Gleisen mittlerweile beheizt.“ Im Bahnhof schläft er nie alleine, er teilt sein Schicksal mit anderen Menschen. „Ich habe in den wenigen Wochen viele Leute kennengelernt, die alle Hilfe brauchen.“ Doch „Edi“ muss sich vorrangig um sein eigenes (Über)Leben kümmern. „Die Straße ist rücksichtslos“, sagt er. Der Obdachlose sammelt Pfandflaschen, um sich Essen und Trinken leisten zu können. An guten Tagen – wenn der MSV spiele – seien auch mal 60 Euro drin. Burchard findet Wege, um satt zu werden. So kennt er zum Beispiel einen großherzigen Pizzabäcker in Hochfeld. Im Winter sei der Weihnachtsmarkt ein echter Glücksfall für die Bedürftigen in der Stadt. „Dort bekomme ich fast jeden Tag etwas zu essen und muss nie hungrig ins Bett gehen.“

Was die gefährlichen Winternächte angeht, sind die städtischen Notunterkünfte für viele Obdachlose keine Alternative- „Da wird man ständig beklaut oder bedroht“, berichtet Karniewski. Er und einige andere hätten sich deshalb das nun abgebrannte Zeltlager eingerichtet. Der Angriff sei dabei nicht der erste dieser Art gewesen. Im vergangenen Jahr habe man ihnen bereits die Zeltwände aufgeschlitzt. „Die Leute stehen nun ohne alles da“, sagt der 36-Jährige. „Schlafsäcke, Anziehsachen und Papiere – alles ist hinüber.“ Seine Bekannten müssten nun auch eine neue Schlafstelle finden, die abgelegen und von Straßen nicht einsehbar sei. „Nur so ist der Schlafplatz auch sicher.“

Denn seit dem Brand gehe bei den Obdachlosen die Angst um, vor allem in den kalten Nächten. „Wir wissen nicht, was die Leute mit uns machen, wenn wir schlafen“, sagt Karniewski und berichtet von einem Fall, bei dem ein Bekannter mit Pfefferspray attackiert und beraubt worden sei. Gewalt gegen Obdachlose sei aber eigentlich selten. „Das liegt vor allem daran, dass wir immer in großen Gruppen zusammen sind“, sagt Karniewski.

Von den Attacken einzelner Verirrter abgesehen, würden die Duisburger aber im Allgemeinen einen guten und freundlichen Umgang mit Obdachlosen pflegen. „Viele Menschen sind höflich“, sagt Karniewski. „Da überwiegt häufig das Mitgefühl gegenüber der Verachtung.“ So erinnert sich der 36-Jährige zum Beispiel an einen Mann, der ihn wiedererkannt hat, als er aus seinem Auto ausgestiegen ist. „Der lief zu mir, gab mir 50 Euro und sagte, ich soll mit meiner Freundin nett essen gehen.“

So sehr Obdachlose von Mitmenschen unterstützt werden, von der Politik fühlen sich Karniewski und Burchard im Stich gelassen. „Obdachlose sollten fair behandelt werden“, fordert Burchard. „Wir sollten mehr Hilfe bekommen, zum Beispiel warme Klamotten oder einen Schlafplatz, damit wir nicht erfrieren müssen.“

Karniewski wird noch etwas konkreter. „Seit Jahren fordern wir schon mobile Toiletten“, sagt er und nimmt Oberbürgermeister Link in die Pflicht. „Und eines der vielen leerstehenden Geschäfte in der Innenstadt könnte man als Unterkunft für Obdachlose benutzen.“

(jlu)
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