Akzente-Gastspiel mit Fallada-Stück Die alltägliche Banalität des Bösen

Duisburg · Ein Höhepunkt der Akzente: Das Hamburger Thalia-Theater gastierte mit Hans Falladas „Jeder stirbt für sich allein“ – inszeniert von Luk Perceval.

 Eine Szene aus der Hamburger Fallada-Inszenierung, die nun als Akzente-Gastspiel im Stadttheater zu erleben war.

Eine Szene aus der Hamburger Fallada-Inszenierung, die nun als Akzente-Gastspiel im Stadttheater zu erleben war.

Foto: Krafft Angerer

Im Gegensatz zu Theater- und Operninszenierungen eines Peter Steins vom „Faust“ (Goethe) oder Frank Castorfs vom „Ring“ (Wagner), die einst weit über 20 Stunden dauerten, fühlten sich die Aufführungen von „Jeder stirbt für sich allein“ am Wochenende im Duisburger Theater mit „nur“ gut vier Stunden wie ein „Quickie“ an. Schauspielintendant Michael Steindl hatte die mehrfach ausgezeichnete Inszenierung vom Hamburger Thalia-Theater aus dem Jahre 2012, darunter „Inszenierung und Bühnenbild des Jahres“ ebenso wie der Deutsche Theaterpreis „Faust“ für Regie und Bühne 2013, lobenswerter Weise zum diesjährigen Akzente-Theatertreffen eingeladen. Auch wenn beide Vorstellungen lediglich „nur“ gut besucht, nicht aber ausverkauft waren – wie beispielsweise die Thalia-Abstecher nach Berlin, Dresden oder Wien in den Jahren zuvor –, so stellte das Hamburger Theatergastspiel des bekannten Fallada-Stoffes einen (zumindest vorläufigen) Höhepunkt des bisherigen Kulturfestivals in Duisburg dar.

Dennoch: An die spektakuläre Fallada-Inszenierung von Peter Zadek (1926-2009) am Berliner Schiller-Theater 1981, die der außergewöhnliche deutsche Theaterregisseur und -intendant als eine knallig grelle Revue in Szene setzte, in der langbeinige Mädchen in Nazi-Uniformen steppten und sich auf der Bühne zahllose Hitlers tummelten, als wäre es ein Stück von Mel Brooks, reicht die Hamburger Arbeit nicht ran. Aber sie ist ja auch ganz anders – und das liegt nicht unwesentlich an der erst seit 2011 erhältlichen erstmalig ungekürzten Originalfassung des antifaschistischen Fallada-Romans aus dem Jahre 1947. 

Percevals Fallada-Adaption für das Thalia Theater, die er zusammen mit Dramaturgin Christina Bellingen entwickelte, setzt auf eine Mischform sowohl in den Erzählformen als auch auf den Erzählebenen: Der neue über 700 Buchseiten starke Roman von Hans Fallada (1893-1947) besteht aus vier Teilen: „Die Quangels“, „Die Gestapo“, „Das Spiel steht gegen Quangels“ und „Das Ende“. Diese vier Teile haben Perceval-Bellingen zu drei Aufzügen, getrennt durch zwei Pausen, vereint und zu Probenbeginn, wie Bellingen beim „Schauspielführer live“-Gespräch mit Steindl bemerkte, auf zunächst 200 Leseseiten für die elf mitwirkenden Schauspieler gebracht. Diese bestanden und bestehen seit der Premiere noch weiter eingekürzt aus sowohl epischen Texten wie auch aus Dialog-Szenen.

Perceval kam diese Text- und Erzählform sehr entgegen, wollte er zusammen mit seiner Bühnenbildnerin Annette Kurz doch eine Spielform schaffen, die in diesem grandiosen, fast leeren Bühnenraum nun auf ideale Weise zur Geltung kommt. Im Zentrum der Bühne steht nur ein Tisch, um den sich das Personal mal chorartig, mal stumm mahnend gruppiert. Perceval zitiert im Programmheft ein flämisches Sprichwort: „Des einen Tod ist des anderen Brot.“ Um den Tisch zentriert er das Schauspiel als eine Art Mikrokosmos rund um das Arbeiterehepaar Anna und Otto Quangel, das von der Botschaft, ihr Sohn sei beim Frankreichfeldzug 1940 gefallen, aus ihrem Alltag gerissen und zu Widerstandskämpfern wird. So wird an dieser Stelle der Bühnenraum zur Arbeiterstube und Todeszelle wie zum WC und Verhörraum zugleich. Das wiederum schafft eine ungeheure Intensität für das Spiel und den Dialog zwischen den Figuren, denn der Tisch verbindet einerseits das Ehepaar Quangel (Oda Thormeyer und Thomas Niehaus) beim Schreiben der über 200 zum Widerstand aufrufenden handgeschriebenen Postkarten („Der Führer hat mir meinen Sohn ermordet!“), andererseits aber trennt er zum Beispiel den Kriminalkommissar Escherich (André Szymanski) von seinem sadistischen Vorgesetzten, den SS-Obergruppenführer Prall (Barbara Nüsse).

Als Bühnenhintergrund diente zur Premiere der im Roman genannte Stadtplan Berlins mit Fähnchen (Escherich: „Jedes Fähnchen bedeutet eine aufgefundene Karte“), für den die Bühnenbildnerin ein gigantisches Architekturmodell aus rund 4000 bestehenden Gebrauchs- und Haushaltsgegenständen jener Zeit angefertigt hatte, um damit quasi den Makrokosmos zu symbolisieren. In Duisburg wie aber auch bei anderen Gastspielen zuvor gab es stattdessen eine aus über 60 zusammenhängenden Tafeln bestehende Stofflandschaft, die etwa selbiges hätte darstellen und assoziieren sollen, nicht aber annähernd tat. Doch der Fokus der Erzählebene wird noch ein weiteres Mal erweitert: Denn an der Rampe entsteht eine durch die Schauspielfiguren an das Publikum gewandte Ansprache.

Nein, das ist kein Lehrtheater à la Brecht, übt aber dennoch eine ungeheure Kraft auf den Beobachter und Zuhörer aus und bringt die alltägliche Banalität des Bösen ganz nah ran an die Menschen und das Heute.

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