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Duisburger Geschichte und Geschichten Vor den Nazis nach Shanghai geflohen

Duisburg · Im Konfuzius-Institut sprach Zeitzeugin Sonja Mühlberger über die Flucht ihrer Eltern vor dem NS-Regime.

 Rückkehr: Sonja Mühlberger – rechts im Bild – mit ihren Eltern und dem jüngeren Bruder kehrten am 21. August 1947 nach Berlin zurück.

Rückkehr: Sonja Mühlberger – rechts im Bild – mit ihren Eltern und dem jüngeren Bruder kehrten am 21. August 1947 nach Berlin zurück.

Foto: Sonja Mühlberger

Im Jahr 1938 hatten Juden in Deutschland nur dann eine Überlebenschance, wenn sie ins Ausland emigrierten. Allerdings nahmen nur wenige Länder und Städte noch jüdische Flüchtlinge auf. Das Konfuzius Institut erinnerte mit einem Vortrag der Zeitzeugin Sonja Mühlberger an die Flucht nach Shanghai. Die ehemalige Lehrerin erzählte lebhaft und eindrucksvoll ihre Geschichte, die sie mit einmaligem Bildmaterial veranschaulichte.

Nach den Novemberpogromen 1938 wurden Juden grundlos im KZ Dachau inhaftiert – so auch Sonjas Vater. Erst als seine Frau die Ausreisepapiere vorlegte, kam er frei. Der letzte Zufluchtsort für Juden war damals die Metropole Shanghai, die weder Visum oder exklusive Beziehungen verlangte. Die letzten Geldmittel wurden bei den Großeltern zusammen gekratzt. Dem jungen Ehepaar Krips gelang es, ein Ticket für die Passage zu ergattern. Ein Glücksfall. Nach beschwerlicher Schiffsreise über Genua erreichte ihr Vater mit seiner hochschwangeren Frau endlich Shanghai. Dort wurde die kleine Sonja laut Dokument 1939 als „Shanghai-Baby“ im heruntergekommenen Stadtteil Hongkou geboren.

Shanghai war seit 1938 bereits von japanischen Truppen besetzt. Aber es gab noch die aus der Kolonialzeit bestehenden International Settlements, die von England, Frankreich und den USA verwaltet wurden. Diese Enklaven waren nicht mit Stacheldraht abgesperrt, berichtet Mühlberger, aber die japanischen Besatzer kontrollierten das Verlassen des Ghettos. Juden mussten sich gegenüber den eingesetzten Posten mit Passierscheinen ausweisen. Sonjas Vater schaffte es, einen Job als Auslieferer zu bekommen. Englisch hatte er sich als Autodidakt beigebracht. Die Wohnsituation der jungen Familie war erbärmlich. Es gab kein fließendes Wasser, keine Toiletten, man wohnte auf engstem Raum zusammen, die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal. Viele Emigranten konnten sich nur mit Unterstützung jüdischer Hilfsorganisationen über Wasser halten.

Trotz Not, Elend, Hunger, Ungeziefer und Krankheit hat Sonja Mühlberger ihre Kindheit in guter Erinnerung. Das Ghetto in Shanghai hatte der inzwischen vierköpfigen Familie schließlich das Leben gerettet. Mit Fortschreiten des Zweiten Weltkriegs verschlechterten sich zunehmend die Lebensverhältnisse der auf zweieinhalb Quadratkilometern zusammengepferchten Emigranten. Die Flüchtlinge fühlten sich wie in einem Wartesaal und hofften auf ein baldiges Kriegsende. Nachrichten aus Deutschland flossen nur spärlich. Mit selbstgebastelten Radioempfängern verfolgten die Emigranten den Frontverlauf. Aber nur wenige dachten zum Zeitpunkt der sich abzeichnenden militärischen Niederlage des NS-Regimes an eine Rückkehr nach Deutschland. Nach der Kapitulation Japans dauerte es noch einige Monate, bis die jüdischen Flüchtlinge Shanghai verlassen konnten. Etwa 18.000 jüdische Emigranten, die meisten aus Deutschland, Österreich und Polen, verließen Shanghai. Überwiegend gingen sie nach Israel, Australien oder in die USA. Nur einige hundert deutsche Juden, darunter Sonja Mühlberger und ihre Eltern, wagten den Neuanfang im kriegszerstörten Berlin.

Am 21. August 1947 traf das Ehepaar Krips mit der achtjährigen Sonja und ihrem jüngeren Bruder im Görlitzer Bahnhof ein. „Nach der langen Bahnfahrt wollte ich nur noch ins Bett“, so Sonja Mühlbauer. „Als Kind reflektiert man das gesamte Geschehen noch nicht vollständig.“ Dass alle Verwandten der Familie in der Shoa umgekommen sind, löste bei den Überlebenden nicht selten Schuldgefühle aus. Die Rückkehr der Emigranten aus Shanghai ist heute ein fast vergessenes Kapitel des Neubeginns jüdischen Lebens in Deutschland.

Duisburger Juden gelang nur in zwei Fällen die Auswanderung nach Shanghai. Mit dem Vortrag von Sonja Mühlberger setzt das Konfuzius-Institut ein Zeichen gegen das Vergessen. Sonja Mühlbauer gelang es auf sympathische Weise, das Publikum zu fesseln. Die jung gebliebene 78-Jährige fährt regelmäßig nach Shanghai. Die Wolkenkratzer-Metropole mit 25 Millionen Einwohnern wirkt heute mit ihren Hochstraßen und den gigantischen Bauwerken im Innenstadtbereich absolut futuristisch. Nur wenige Spuren aus den 40er Jahren sind noch versteckt im Stadtviertel Hongkou in den Parkanlagen zu finden. Jenseits der berühmten Uferpromenade befindet sich noch die alte Synagoge, die heute als Museum dient.

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