Düsseldorfer „Löwen-Kids“ Wie es Kindern chronisch kranker Eltern in der Corona-Krise geht

Düsseldorf/Witten · Hunderttausende Mädchen und Jungen in Deutschland kümmern sich um ihre chronisch kranken Eltern. Selten sprechen sie offen über ihre Situation, die durch Corona vielfach noch schwieriger wird.

 Ein Schüler in der Grundschule stützt den Kopf auf seine rechte Hand. (Symbolbild)

Ein Schüler in der Grundschule stützt den Kopf auf seine rechte Hand. (Symbolbild)

Foto: dpa/Arne Dedert

Die Kinder haben keine Lust mehr auf Corona. Ihre Eltern sind süchtig, haben eine Depression oder eine andere psychische Erkrankung. In der ersten „echten“ Gruppenstunde seit Ausbruch der Corona-Krise gibt es also eine Abmachung: Jeder, der über das Thema redet, bekommt einen Strich. Am Ende hat Pädagogin Christina Pucks drei Striche – und verloren.

So schildert die Fachfrau das erste der wöchentlichen Treffen ihrer „Löwen-Kids“ – einer Gruppe für Grundschüler mit sucht- und psychisch kranken Eltern in Düsseldorf – seit Mitte März. Dass sich die Mädchen und Jungen im Alter von sieben bis zehn Jahren nicht über die Pandemie und ihre Folgen austauschen wollten, kann Pucks verstehen: „Die Kinder wollen auch mal eine gute Zeit haben.“ In der Phase der strengen Kontaktbeschränkungen hätten einige Eltern Zusammenbrüche erlebt. Zwei depressive Väter hätten berichtet, dass sie immer dünnhäutiger würden und große Angst vor dem Virus hätten. Eines der Kinder würde wieder einnässen – ein Problem, das eigentlich schon besser geworden war, wie die Pädagogin berichtet.

In Deutschland leben Schätzungen zufolge hunderttausende Eltern mit einer körperlichen oder psychischen, chronischen Erkrankung mit ihren Kindern in einem Haushalt. Wie es diesen Minderjährigen während der Corona-Krise geht, können selbst Experten nur vermuten. Das Problem: Die Mädchen und Jungen reden oft nicht über ihre Lage.

„Je stärker eine soziale Isolation droht – unabhängig von Corona –, desto größer ist die Belastung für die Kinder“, erklärt Sabine Metzing, Professorin für Pflegewissenschaft an der Universität Witten/Herdecke. Als eine von wenigen Wissenschaftlern in Deutschland beschäftigt sie sich mit sogenannten pflegenden Kindern. Das sind Mädchen und Jungen, die Pflegeaufgaben in der Familie übernehmen, also zum Beispiel den Rollstuhl schieben und putzen oder Medikamente geben und beim Anziehen helfen.

Metzing schätzt, dass bundesweit etwa 500.000 Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 19 Jahren zu Hause pflegen – oft die Eltern, manchmal auch die Großeltern oder Geschwister, selten andere Angehörige. Die Folgen sind vielfältig: Sorgen, Schlaflosigkeit, Ängste, Kopfschmerzen, manchmal Rückenschmerzen von der Pflegearbeit und Probleme in der Schule.

Aber: „Nicht alle Kinder und Jugendlichen, die mit chronisch kranken Angehörigen zusammenleben, leiden massiv unter dieser Situation“, betont die Expertin. Die Minderjährigen seien auch stolz auf das, was sie leisten. Viele sprächen jedoch nicht über ihre Lage, weil es in der Familie eine Art Schweige-Code gebe. Die Eltern haben zum Beispiel Angst, dass das Jugendamt bald vor der Tür stehen könnte, wenn ihre Situation bekannt würde. Und die Kinder, so Metzing, wollen die Familien zusammenhalten.

Was ihnen helfen würde, wäre ganz praktische Unterstützung für die Erwachsenen, sagt die Professorin. „Dass man zum Beispiel irgendwo anrufen und sagen kann: Ich brauche heute jemanden, der das Kochen übernimmt, damit das nicht meine Tochter macht, wenn sie aus der Schule kommt.“ So etwas könnten Behörden und Hilfsverbände organisieren – oder einfach Nachbarn, die über Online-Angebote wiederum besser vernetzt seien.

Aus Angst vor Verurteilung schweigen aber viele erkrankte Erwachsene – und mit ihnen die Kinder. „Die wollen ihre Eltern beschützen“, sagt auch Pädagogin Pucks aus Düsseldorf. Die Kinder in ihrer Gruppe übernähmen zu Hause zwar keine Pflegeaufgaben, seien jedoch eine wichtige seelische Stütze für ihre Eltern.

Sieben Wochen lang überbrückten Pucks und die Grundschüler die Phase der strengen Kontaktbeschränkungen mit Videochats. Das habe nicht wirklich gut funktioniert, berichtet die Fachfrau. Manche Eltern hätten in Hörnähe gesessen. Mittlerweile trifft sie sich wieder „richtig“ mit den Mädchen und Jungen. Den erkrankten Eltern rät die Pädagogin, ihren Töchtern und Söhnen so früh wie möglich zu erklären, was mit ihnen los ist. „Die Kinder spüren eh alles“, sagt sie. „Und sie glauben schnell, es liegt an ihnen und geben sich die Schuld. Das ist das Schlimme.“

(chal/kna)
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