Serie Düsseldorfer Geschichte(n) Der Präsident und sein Mega-Hit

Düsseldorf · Wie Dirk Tillen die Idee hatte, mit Walter Scheel ein Lied aufzunehmen – und nach 30 Jahren dafür eine Goldene Schallplatte bekam.

 Seine Goldenen Schallplatten bewahrte Alt-Bundespräsident Walter Scheel in seinem Haus in Bad Krozingen auf.

Seine Goldenen Schallplatten bewahrte Alt-Bundespräsident Walter Scheel in seinem Haus in Bad Krozingen auf.

Foto: dpa/Patrick Seeger

Sitzt ein Mann im Café und liest Zeitung. Da stößt er auf eine Drei-Zeilen-Meldung mit der Ankündigung: Der deutsche Außenminister kommt nach Düsseldorf und will seinen Männergesangverein besuchen. „Daraus müsste sich doch was machen lassen“, denkt der Zeitungsleser und lässt seinen Kaffee kalt werden. Denn als Musikproduzent hat er sofort eine bestechende Idee. Kurze Zeit später besteigt Walter Scheel, damaliger Außenminister und späterer Bundespräsident, einen gelben Wagen und landet das, was niemand ahnen konnte: einen Megahit – Made in Düsseldorf.

Man stelle sich das vor: Heiko Maaß steht in einem Tonstudio und schmettert mit Inbrunst deutsches Liedgut: „Kein schöner Land“ oder so was in der Art. Undenkbar! Andere Zeiten, anderer Politikstil, man möchte sich heutzutage nicht die Kommentare in den digitalen Netzwerken vorstellen. Auch für die politischen Berater von Walter Scheel war die Idee befremdlich, was wäre, wenn da was schiefgehen und der Außenminister sich lächerlich machen würde. Aber Scheel, ein Mann mit starker Stimme, ließ sich anstecken, witterte vielleicht auch die Popularität, die ihm die Idee bescheren würde, wohl auch seiner Partei der FDP. Singen, warum nicht? Aber was? „Es sollte etwas Volksnahes sein“, erinnert sich Dirk Tillen. Gemeinsam mit seiner Frau Ingrid hatte er 1970 die IDT-Musikproduktion gegründet. „Und nun stand plötzlich der ‚Gelbe Wagen‘ im Raum.“

Den Kontakt zu Scheels Bonner Büro hatte Tillen über den Vorsitzenden des Männergesangvereins Düsseldorf geknüpft. „Es war mir klar, dass alles perfekt klappen musste.“ Deshalb buchte er 1973 das beste Tonstudio in Köln mit den besten Technikern. Und wartete. Schließlich traf Scheel mit Wagenkolonne und Entourage mit zwei Stunden Verspätung ein. „Er war versehentlich in einem Kölner Sarglager gelandet.“ Mit Navi wäre das nicht passiert. Aber dann erwies sich der Außenminister als gut vorbereitet, die Aufnahme gelang innerhalb von zwei Stunden – und traf den Ton der Zeit.

Denn seine Single, mit dem Männergesangverein als Background-Chor, verkaufte sich glänzend. Vor allem, nachdem er auch noch bei einem Live-Auftritt in Wim Thoelkes populärer ZDF-Show „3 x 9“ seinen Hit dem millionenfachen Samstagabend-Publikum in die Wohnzimmer schmetterte. „Scheel hatte bei Dienstfahrten geübt, Playback zu singen, also nur die Mundbewegungen zur Musik zu machen, was ihm super gelang“, erinnert sich Tillen. „Hoch auf dem gelben Wagen“ (auf der Rückseite „Wohlauf in Gottes schöne Welt“) hielt sich wochenlang auf Platz 1 der Deutschen Hit-Parade. „Und verwies Stars wie Mireille Mathieu, Udo Jürgens, Ike & Tina Turner und Suzi Quatro auf die hinteren Ränge“, so der stolze Produzent. Innerhalb von drei Wochen waren 100.000 Platten des Politikers verkauft. Zur Freude etlicher wohltätiger Organisationen, denn Scheel spendete sein gesamtes Honorar. „Insgesamt sind da über eine Million Mark zusammengekommen.“

Foto: Hans-Juergen Bauer (hjba)

Der Produzent und sein Sänger waren sich Jahre zuvor schon auf Bonner Parkett begegnet, wenn auch beide in anderer Funktion. Denn Dirk Tillen arbeitete Anfang der 1960-er Jahre als Reporter für die englische Foto-Agentur Keystone und hatte in dieser Zeit die Politik-Prominenz vor der Linse – von Willy Brandt bis Kennedy. Nach ein paar Jahren wechselte er die Szenerie, ging zu einer renommierten Künstleragentur und begleitete als Road-Manager viele Stars bei ihren Tourneen. Abendelang könnte er erzählen von Juliette Gréco und Klaus Kinski („der hatte sehr liebenswürdige Seiten“), Charles Aznavour und Marlene Dietrich. Aber vorerst gibt‘s nur Häppchen, denn die gesammelten Anekdoten sollen in zwei Jahren zu seinem 80. Geburtstag in seiner Autobiografie veröffentlicht werden.

Bei seinem nächsten Arbeitgeber mit Glamourfaktor, der Künstler-Agentur Tenno, hatte Dirk Tillen eine schicksalhafte Begegnung: Er lernte eine junge Frau kennen, Ingrid aus Berlin, die am Konservatorium klassische Musik studiert hatte. Mit ihr – das Paar ist nun seit fast 50 Jahren verheiratet – wagte er 1970 die Selbstständigkeit – mit zwei weiteren Geschäftssäulen zur Musikproduktion: einer Konzertdirektion und einem Musikverlag, somit kassierten sie einen Teil der Künstlertantiemen. Über 1500 Konzerte organisierte das Paar – auf unterschiedlichen Bühnen. So brachten Ingrid und Dirk Tillen die Stars an Bord der MS Europa in einer Zeit, als Schiffsreisen noch ein exklusives Vergnügen waren.

Nur einige Splitter aus ihrem Spektrum: Sie produzierten mit Lew Kopelew eine Literatur-CD und erwarben die Weltrechte für drei Kompositionen des Literatur-Nobelpreisträgers Boris Pasternak. Sie verhalfen dem polnischen Klavier-Duo Marek & Vacek zum internationalen Durchbruch. Sie organisierten Tourneen für Weltstars wie Edda Moser, Hermann Prey und Felicia Weathers. Heute sind diese Erfolge Erinnerung. Ingrid Tillen schreibt zurzeit einen Roman, in dem es um das Schicksal eines jungen Musikers geht. Dirk Tillen bemüht sich darum, dass „seine“ Künstler noch immer im Radio gespielt werden. Ansonsten ist er ein kritischer Beobachter der Szene, sieht die Veränderungen in der Schallplatten-Industrie. „Früher, da brauchte man ein Riesen-Team, um eine Platte zu produzieren, heute kann ja jeder im Keller etwas zusammenmischen und übers Netz verbreiten. Das Internet hat das Musikgeschäft revolutioniert“, sagt Tillen. Und berichtet davon, dass er auf Youtube ständig Titel hört, an denen er die Rechte hat, „aber dafür kriegen wir nichts“.

Nur der „gelbe Wagen“, der fährt immer noch auf Erfolgsspur. Zumal in diesen Wochen, denn am 8. Juli würde Walter Scheel 100 Jahre alt. Der damalige Bundespräsident schrieb dem Produzentenpaar im Januar 1974 in einem Brief: „Seit sechs Wochen dreht der ‚Gelbe Wagen‘ nun seine Runden auf den Plattentellern. Wenn mich das ständige Rundendrehen ‚beim Schwager vorn‘ auch nicht schwindlig macht (ich war einmal fliegertauglich), so hat mich der große Erfolg denn doch überrascht. Da für mich aber Erfolge keine Kinder des Zufalls sind – vielleicht manchmal des Glücks, meist jedoch der harten Arbeit - möchte ich Ihnen, die Sie ganz zweifellos das härteste Stück Arbeit an unserer Schallplatte hatten, heute meinen Dank übermitteln.“ Außerdem schreibt Scheel von seiner Hoffnung, dass „uns der Schwager vorn alsbald in Schallplatten-Gold kutschiert“. Dieser Wunsch sollte sich erfüllen, aber erst viel später.

Denn als sich die Wahl Walter Scheels zum Bundespräsidenten abzeichnete, musste der Medienrummel um den plötzlich so populären Barden gedimmt werden. Staatsraison geht vor Show-Business. Trotzdem blieb der Hit ein Evergreen. Der „Gelbe Wagen“ wurde so etwas wie die klingende Staatskarosse des Bundespräsidenten – und verkaufte sich in den folgenden Jahrzehnten auf über einer Million Tonträgern. So wurde Walter Scheel und dem Produzenten-Paar Tillen 30 Jahre nach dem folgenreichen Tag im Tonstudio die Goldene Schallplatte verliehen – zu Scheels 85. Geburtstag. Heute steht die Goldene (mit ihrer Schwester in Platin) im Haus der Geschichte in Bonn, zusammen mit den Original-Tonbändern und etlichen Briefen.

Bis heute dürfte Walter Scheel das einzige Staatsoberhaupt sein mit einer beachtlichen Karriere als Gesangsstar. Wenn man mal absieht vom König von Tonga, mit dem Dirk Tillen ebenfalls eine CD produziert hat mit Klängen aus der Südsee. Aber das ist nun wirklich eine andere Geschichte.

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