Düsseldorfer Geschichten Wenn es Nacht wird auf der Ratinger Straße

Düsseldorf · Sie liegt in der Altstadt - und gehört doch nicht wirklich dazu. Auf der Ratinger Straße treffen sich alle, die keine Lust haben auf Ballermann und Oberbayern. In fast jedem Haus gibt es eine Kneipe. Bier holen sich die meisten Besucher im Sommer am Kiosk. Nicht zuletzt deshalb hat sich die Straße in den vergangenen Jahren stark verändert. Eine eigene Szene hat sich etabliert.

Wenn es Nacht wird auf der Ratinger Straße
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Wenn es dämmert auf der Ratinger Straße, schlägt die Stunde von Amir Abdel Gadir. In seinem Kiosk im Haus Nummer 44 hat er die Tiefkühltruhen randvoll mit Bier gefüllt. Sobald die Flaschen kalt genug sind, packt er sie in die danebenstehenden Kühlschränke. Sein Bier ist so kalt, dass es fast vereist. Da bleibt es lange kühl, wenn man es in der Hand hält. So mögen es die Kunden. Amir Abdel Gadir ist bereit für den Ansturm. Der lässt nicht lange auf sich warten. Ab 20.30 Uhr kommen im Minuten- und Sekundentakt Kunden. Die eisgekühlten Pullen wandern immer schneller und schneller über die Ladentheke. Amir Abdel Gadir sitzt auf seinem Hocker und kassiert.

Manchmal schwitzt er so ein bisschen vor sich hin. Es ist auch ziemlich warm in seinem Laden. Dafür sorgen die Kompressoren der vielen Kühlschränke. Amir Abdel Gadir hat den Kiosk seit zwölf Jahren. Altbier verkauft er so gut wie gar nicht mehr. "Die meisten wollen Becks Gold oder normales Becks", sagt der Inhaber. Wenn einer mal eine Flasche Alt kauft, dann ist es meist ein Füchschen. Das gibt es auch nebenan nur ein paar Meter weiter. Die Hausbrauerei von Peter König dürfte in den Sommermonaten eine der wenigen Kneipen auf der Ratinger Straße sein, wo sich einige Gäste noch nicht selbst das Bier mitbringen. Frisch gezapftes Alt hat noch seine Fans und Liebhaber.

Viele kaufen lieber ihr Pils an einem der Kioske in der Nähe der Ratinger Straße. Und trinken es auf der Straße. An lauen Sommerabenden geht keiner wirklich in eine der vielen Kneipen. Die große Masse stellt sich einfach nur davor. Das ist ein seit Jahren so eingeübter Rhythmus. Mittwochs und Freitags, manchmal auch samstags im Sommer ist die Ratinger Straße voll.

So voll, dass schon lange keine Autos mehr durchkommen, die Straße aber nie wirklich gesperrt war. Wer sich doch mit seinem Auto traute, musste zusehen, wie er mit der Masse klarkommt, die oft keinen Zentimeter zur Seite rückt, es einfach mal drauf ankommen lässt. Da hagelt es schon mal Bier durch offene Schiebedächer oder Seitenscheiben. Oder Autos werden von mehreren Seiten in die Zange genommen und ordentlich durchgeschaukelt. Manche Fahrer finden das weniger witzig als die breite Masse und steigen aus. Zu Schlägereien kommt es dabei doch eher selten. Zu viele gegen einen, wer es genau war, weiß keiner mehr so genau. Die, die nicht in den Autos sitzen, finden es witzig.

Immer wieder nervig: Die Taxis. Die oft rücksichtslos ihr Recht auf den Halteplatz vor dem Ohme Jupp eingefordert haben. Aber irgendwie ist es mit den Autos immer gegangen, wenn auch oft nur zentimeterweise. Seit ein paar Wochen ist die Ratinger Straße nun mittwochs, freitags und samstags für den Autoverkehr gesperrt. Die Fußgänger sind sicher.

Das Taxi-Chaos findet nun ein paar Hundert Meter weiter statt. Die Droschken blockieren die Einfahrt zur Ratinger Straße, versuchen irgendwie an Fahrgäste heranzukommen. Eine wirkliche Lösung kann das nicht sein. "Was sollen wir machen", sagt ein Fahrer. Am Mittwochabend ist nun mal in der Altstadt nur auf der Ratinger was los. "Wenn wir uns woanders hinstellen, müssen wir zu lange warten", sagt der Fahrer und gibt Gas.

Nicht lange warten müssen die Flaschensammler. "Ich mache es aus Hobby", sagt Elena, die gemeinsam mit ihrem Mann unterwegs ist. Ihr Auto haben sie in der Nähe geparkt. Wenn sie 100 Flaschen gesammelt haben, bringen sie das Leergut in ihr Auto. Am Anfang hat sich Elena geschämt. Leere Bierflaschen einsammeln das war eigentlich nicht ihr Ding. Aber 100 Stück bringen acht Euro, manchmal sind auch ein paar dabei, die mehr wert sind. Da kommt am Abend was zusammen. "Ich kaufe meinem Enkel Spielzeug davon", sagt Elena und packt die nächste Flasche ein. Es lohnt sich scheinbar. Es können auch schon mal mehr als 100 Flaschen sein.

Ob sich das Geschäft für die Wirte noch lohnt? Schon vor Jahren haben sie mal 5000 Flugzettel verteilt. "Die Altstadt - das ist Gastronomie und nicht Kiosk und Straßenkonsum" stand drauf. Von hohen Umsatzeinbußen war die Rede. Aber alle Kneipen gibt es immer noch und es sind noch welche hinzugekommen. Der Kuchen lässt sich offenbar in noch mehr Teile aufteilen. Gegen die Büdchen können die Wirte nichts machen. Sie wird es so lange geben, wie dort genug gekauft wird.

Wer geht heute auf die Ratinger? Wer trifft sich dort? Auf der Ratinger Straße ist nicht das typische Altstadt-Publikum unterwegs. Manni aus Viersen, der mit seinem Kumpels mal richtig einen drauf macht und "ganz viele Weiber anbaggern" will, ist auf der Bolkerstraße unterwegs. Auch die berühmten Junggesellen-Abschiede verirren sich eher seltener dorthin. Auf der Ratinger trifft man Schüler, Studenten, Berufsanfänger - sie stellen heute einen Großteil des Publikums.

Die heute 20- bis 35-Jährigen wissen nicht mehr viel von dem, was die Straße früher mal war. Als die ersten Studenten der nahe gelegenen Kunstakademie regelmäßig in die Kneipen gingen, die eigentlich gar keine klassischen Studentenkneipen waren. Als Uel, Einhorn und Ohme Jupp noch holzvertäfelte Wände hatten und ursprünglich auf eher ältere und eben ganz normale Gäste ausgerichtet waren. Dann wurde nebenan der Ratinger Hof umgebaut. Aus einer Western-Kneipe mit Sternenhimmel wurde einer der angesagtesten Punk-Schuppen in ganz Deutschland.

Zwischen 1975 und 1980 war der Hof so etwas wie die Geburtsstätte von Punk und New Wave in Deutschland. "Es gab nur zwei Plätze, an denen das Leben Sinn machte: London und der Ratinger Hof" - diesen Satz sagte Jürgen Engler, Gründer und Frontmann der Bands Male und Die Krupps. Natürlich haben auch die Toten Hosen irgendwann mal im Hof gespielt. Es gab Konzerte die waren eine einzige Schweinerei. Es war siffig, es war dreckig, es war ekelig. Wie der Auftritt von "King Kurt". Weil bekannt war, dass die Bandmitglieder die Besucher mit Farbe beschmeißen, stellte man sich besser in die hinteren Reihen, um nichts abzubekommen. Aber auch da war man nicht sicher. Denn die Besucher hatten Unmengen Mehl dabei und verteilten es schon vor dem Einlass auf der Straße. Auf der Straße stehen und Bier trinken war damals noch nicht so angesagt wie heute. Die ehemalige Inhaberin des Hofs, Carmen Knoebel, erzählte einmal, dass man nur mit einem Glas Bier in der Hand vor dem Hof stehen musste und schon war die Polizei da.

Es gibt zwar heute noch eine Diskothek, die sich "Ratinger Hof" nennt. Es ist aber nur der Namenszug, viel mehr nicht. An den alten Hof kann sich kaum noch jemand erinnern, der heute dort unterwegs ist. Man muss es auch nicht. Es ist längst nur noch Geschichte, die man nachlesen kann. Aber eine schöne Geschichte vom "Legendären Drecksloch", wie den Hof mal ein großes Magazin nannte.

Die Besucher von heute sind meist brav und artig, sie schmeißen kein Mehl mehr vor oder während Konzerten, sie rebellieren gegen fast gar nichts und sehen zu, wie sie ihr Studium in der Regelstudienzeit schaffen. Ihre Haare sind gegelt, die Klamotten brav und artig und meist von irgendwelchen Marken. Ihr Musikgeschmack: Meist alles, was irgendwie mal in den Charts war oder gerade ist. Punker kennen die meisten nur noch vom Hörensagen oder von lustigen Fotos im Internet. Künstler, Intellektuelle, Dichter, Musiker oder eben einfach schräge abgefahrene Typen - auf der Ratinger findet man sie kaum noch. Es weht längst ein anderer Wind.

Die Brauerei Schlösser hat 14 Millionen Euro in ihr Boheme investiert, das gut ankommt. Das Quartier auf dem Gelände des Amtsgerichts wird umgestaltet. Weiter unten, Richtung Rhein, entstehen neue Häuser, die hochwertigem und anspruchsvollem Wohnen in Metropolen angemessen sind. Vielleicht entstehen in den Erdgeschossen auch Geschäfte und ein paar neue Kneipen. Zumindest im Sommer könnte man sich wieder davor stellen. Und vorher ein Bier am Kiosk holen.

(jco)
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