Studieren in Zeiten des Pflegenotstands „Frust der Studierenden ist progammiert“

Der neue Rektor der Fliedner Fachhochschule für Gesundheits- und Sozialberufe über die Berufschancen seiner akademisch ausgebildeten Studierenden und warum einige Absolventen unheimlich sein können.

 Die Diakonik ist einer der wichtigsten Arbeits- und Forschungsschwerpunkte von Ralf Evers.

Die Diakonik ist einer der wichtigsten Arbeits- und Forschungsschwerpunkte von Ralf Evers.

Foto: Anne Orthen (ort)

Krankenhäuser suchen verzweifelt Pflegepersonal, auf den Stationen sind viele Pfleger frustriert und völlig überlastet, viele vermissen auch die Wertschätzung für die Arbeit, auch finanziell. Auch im Sozialwesen oder in der Pädagogik sieht es kaum anders aus. Davon scheinen sich allerdings viele junge Düsseldorfer nicht abschrecken zu lassen. Im Gegenteil: Die Zahl der Studierenden an der privaten Fliedner Fachhochschule Düsseldorf der Kaiserswerther Diakonie ist seit der Gründung 2014 von knapp 110 auf aktuell fast 1800 angestiegen. Sie zahlen sogar Studiengebühren in Höhe von monatlich fast 370 Euro, um ein Bachelor- oder Masterstudium zu absolvieren. Auch räumlich wächst die Hochschule auf dem traditionsreichen Campus in Kaiserswerth, bis zum Herbst soll es ein zweites Studiengebäude geben, auf rund 1700 Quadratmetern Seminarräume und Büros, aber auch Möglichkeiten für Forschungsarbeit geschaffen werden.

Herr Evers, ein Beruf in der Pflege scheint in diesen Zeiten unattraktiver denn je. Dennoch entscheiden sich viele junge Menschen für eine Ausbildung an Ihrer FH. Warum?

Evers Ich muss sagen, dass ich sehr verblüfft bin, dass die Studierenden in Zeiten des Pflegenotstands so in ihre Ausbildung investieren. Sie könnten auch Fachschulen besuchen oder Studienangebote in der Pflege oder Kindheitspädagogik im Umfeld von Düsseldorf und in Nordrhein-Westfalen nutzen, die kostenfrei sind.

Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Evers Ich bin mir sicher, es liegt auch an der guten Ausbildung an unserer Fachhochschule, der Verzahnung von Praxis und Studium, der Möglichkeit, bei uns auch berufsbegleitend oder Teilzeit, an Wochenenden oder in der Woche zu studieren. Sicher spielt aber auch der Wunsch oder der Zwang eine Rolle, die Region nicht verlassen zu wollen, weil man Sorgeverpflichtungen gegenüber Kindern oder anderen Angehörigen hat. Vor allem aber, denke ich, dass der Idealismus sie in die Studiengänge treibt. Und ich befürchte, dass wir ihren Idealismus als Hochschule wie als Gesellschaft ausbeuten.

Mit der Akademisierung der Gesundheits- und Pflegeberufe hat die Fliedner FH Pionierarbeit auf diesem Gebiet geleistet. Wie schätzen Sie denn die Perspektiven Ihrer Absolventen ein?

Evers Das Gesundheitssystem garantiert ihnen zwar, eine Beschäftigung zu erhalten. Doch die Branche bietet für diese hochqualifizierten Fachkräfte keine entsprechenden Stellen in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder zum Beispiel Kitas. Sie werden dann also zum Beispiel das gleiche wie eine Krankenschwester verdienen. Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die bei uns studieren, haben den großen Vorteil, dass es in der Branche nur Akademiker gibt. Sie steigen dann mit der Entgeltgruppe 11 ein, während es in der Erziehung und bei den Pflegefachkräften zwei Stufen darunter los geht und es hier kaum Entwicklungsperspektiven gibt.

Der Frust ist also vorprogrammiert?

Evers Ja, bei den Studierenden, aber auch den Trägern. Es liegt nämlich nicht an der Unwilligkeit der Träger, sondern an den Schwierigkeiten, diese Stellen zu refinanzieren. Wobei das Gesundheitswesen noch andere Möglichkeiten hat: Die Träger wie Krankenhäuser müssen auch entscheiden, ob sie die Arztspirale weiter vorantreiben oder anders in die Gesundheitsversorgung investieren wollen.

Sind auch Streitigkeiten vorprogrammiert in der Zusammenarbeit der Teams?

Evers Davon wissen wir. Wir bieten zum Beispiel den Masterstudiengang „Medizinische Assistenz – Chirurgie“ an, und der „Physician Assistant“ wird den Chirurgen oft unheimlich, weil die medizinischen Assistentinnen und Assistenten Aufgaben übernehmen können, die auch Ärzte bei der Patientenversorgung übernehmen. Oder in anderen Studiengängen begegnen uns Studierende, die sich für ein Studium bei uns entscheiden, aber nicht wollen, dass das bei ihnen auf der Station oder am Arbeitsplatz bekannt wird, weil sie sich sorgen, dass die Zusammenarbeit erschwert wird. Und dennoch sind wir überzeugt, dass in den multiprofesionellen Teams die entscheidenden Potentiale liegen und versuchen deshalb in der Fliedner Fachhochschule die verschiedenen Professionen gemeinsam zu betrachten und zu entwickeln.

Die Gesellschaft wird kulturell und religiös immer vielfältiger. Wie wirkt sich das auf das Studium bei Ihnen aus?

Evers Die kultursensible Pflege wird immer wichtiger. Und wenn ich mir unsere Studierenden, die Frauen wie Männer, und deren kulturelle Herkunft anschauen, frage ich mich: Warum schöpfen wir aus diesen kulturellen Ressourcen nicht mehr?

Die Hochschule ist nach Theodor Fliedner benannt, der 1836 hier auf dem Campus die erste Ausbildungsstätte für evangelische Frauen gründete und damit die Ausbildung in der Pflege und Erziehung professionalisierte und zentralisierte. Ist der Ansatz noch zeitgemäß?

Evers Damals war die Idee: Wir zentralisieren Pflegeleistungen, bringen unterschiedliche Professionen an einen Ort. Jetzt brauchen wir eine Gegenbewegung: Die pflegerische und medizinische Grundversorgung sollte vor Ort, im Sozialraum gewährleistet werden, um zum Beispiel auch Familien zu vernetzen. Dafür brauchen wir auch multi-profesionnelle Teams draußen. Unser neuer Studiengang Hebammenkunde wird den Akzent, sich mit der Familie von Anfang zu beschäftigen, verstärkt berücksichtigen.

Warum haben Sie einst Evangelische Theologie studiert?

Evers Weil meine Neugier in so viele verschiedene Felder geführt hat, dass die Theologie das ideale Studium für mich war. Ich habe mich mit alten Sprachen beschäftigt, mit ethischen Fragen, mit gesellschaftlicher Entwicklung und mit Werten. Das hat mich dann in das Studium der Sozialen Arbeit, der Diakoniewissenschaften und der Gerontologie geführt. Bei mir war es also eher Neugier denn Idealismus, und ich habe das große Glück, diese wissenschaftliche Neugier aufrecht halten zu dürfen.

Wohnen Sie inzwisch

n auch in Düsseldorf?

Evers Im Moment pendele ich, meine Familie wohnt in Dresden.

Was hat Sie nach Ihrem Amtsantritt am meisten überrascht?

Evers Dass die Hochschule Studierenden in unterschiedlichsten Lebenssituationen versucht, ein Studium zu ermöglichen. Auf dem Papier haben wir neun Studiengänge, doch faktisch gibt es viele Varianten und Lösungen für jeden. Dahinter steckt ein hoher Wille, Menschen ein Studium zu ermöglichen, die anderenorts diese Möglichkeit nicht hätten. Das finde ich sehr anerkennenswert. Bemerkenswert ist aber auch, dass das Kollegium fachübergreifend in intensivem Austausch miteinander ist.

Worauf freuen Sie sich in Düsseldorf neben der Arbeit?

Evers Im Moment bin ich noch mit den Museen beschäftigt, danach freue ich mich aber auch auf den Besuch in der Tonhalle. Vermissen tue ich allerdings die Programmkino-Szene aus Dresden. Und mich interessieren vor allem Städte, in denen man soziale Dynamik deutlich spürt. Das gilt für Düsseldorf weniger: Die Stadt ist schon chic.

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