Vor zehn Jahren in der Düsseldorfer Altstadtwache Der heilsame Brandbrief

Düsseldorf · Das achtseitige Schreiben eines Polizisten an seinen Vorgesetzten löste vor zehn Jahren eine öffentliche Debatte um die Sicherheit in der Düsseldorfer Altstadt aus. Vieles hat sich seitdem geändert.

 Zehn Jahre nach dem Alarmbrief aus der Altstadtwache hat die Polizei die Partymeile im Griff.

Zehn Jahre nach dem Alarmbrief aus der Altstadtwache hat die Polizei die Partymeile im Griff.

Foto: Christoph Göttert

Es waren deutliche Worte, die ein Dienstgruppenleiter der Altstadtwache nach dem zweiten November-Wochenende an seinen Vorgesetzten richtete. „Die Polizei hetzte von Einsatz zu Einsatz (...) Kaum ein Besucher der Altstadt stellte sich normal dar“, beschrieb er die vorangegangenen Nächte. „Die Gewaltspirale dreht sich immer schneller, und in den letzten Monaten kommen objektive Momente hinzu, die das erträgliche Maß überschreiten.“ Schließlich der dringende Appell: „Wenn wir als Polizei der Entwicklung keinen Einhalt gebieten (...) werden wir die Einsätze verlieren.“

Tatsächlich hatte im November 2008 das Nachtleben in der Altstadt eine neue Dimension erreicht. Die Zahl der Junggesellenabschiede hatte sich im Lauf der vergangenen Jahre vervielfacht, 50 teils volltrunkene Gruppen in einer Nacht waren keine Seltenheit mehr. Gewaltbereite Fußballfans verabredeten sich auf der Düsseldorfer Partymeile, und neben den Sauftouristen aus dem ganzen Land hatten sich diverse Gruppen junger Migranten etabliert, die sich die alkoholgeschwängerte Atmosphäre für Raubüberfälle und Gewalttaten zunutze machten oder aus dem Umland ausschließlich anreisten, um sich Scharmützel mit der Polizei zu liefern.

„Da gab es eine gesellschaftliche Veränderung, die wir als Polizei ein Stück weit verpennt haben“, räumt zehn Jahre danach einer ein, der dabei gewesen ist. „Der Bericht des Kollegen sprach vielen Polizisten in der Altstadt aus der Seele. Danach hat sich einiges getan.“

Nicht dass man vorher nichts gewusst hätte. Ungefähr seit der Jahrtausendwende hatten immer öfter erschöpfte Polizeibeamte nach stundenlangen Hetzjagden durch die Altstadt am Sonntagmorgen Berichte über den nächtlichen Wahnsinn in die Computer getippt. Bereits 2003 hatte der damalige Polizeipräsident bei einem öffentlichen Vortrag mit der Aussage Furore gemacht, er fühle sich nach Mitternacht in der Altstadt nicht wohl.

Mit einem Experiment steuerte die Polizei im selben Jahr dagegen: Ein Interventionstrupp wurde eingesetzt, der hauptsächlich an den Wochenenden im Brennpunkt Altstadt unterwegs war. Schwierig genug, bei permanenter Personalknappheit. In den Partynächten in der Altstadt unterstützte der IT fortan die 16 Männer und Frauen der Wache.

Apropos Frauen: Die waren zwar längst selbstverständlich bei der Polizei. Aber in der Altstadtwache fürchteten die Dienstgruppen sich inzwischen vor weiblicher Verstärkung. Wenn die Altstadt samstags eskalierte, könne man die Frauen nicht alleine auf Streife schicken. Und im gemischten Doppel müssten die Männer auf die Kolleginnen aufpassen. „Wir haben in dieser Zeit ernsthaft wieder über solche Fragen diskutiert“, erinnert sich ein führender Beamter. Die Altstadtpolizei war so auf Kante genäht, dass sie versuchte, jedes denkbare Risiko vorab auszuschalten. Denn das, was sich die ausflippenden Altstadtgäste abends so leisteten, war nicht mehr planbar.

Damals wandte sich schon einmal ein erfahrender Dienstgruppenleiter per Brief an seinen Vorgesetzten. Gegen teils heftige Proteste aus der Öffentlichkeit versuchte die Polizei zu dieser Zeit, Personal zu sparen, indem sie wenig frequentierte Wachen in den Stadtteilen schloss oder deren Besetzung reduzierte. Besonders stark war der öffentliche Gegenwind aus dem Linksrheinischen, weshalb die Wache Oberkassel unangetastet bleiben sollte. Wie die Altstadtwache gehörte sie organisatorisch zur Polizeiinspektion Mitte, hatte zwei Streifenwagen und zwei Dienstgruppenleiter – und bei Lichte besehen nicht viel zu tun. Doch nach dem ersten, intern gebliebenen, Tatsachenbericht aus der Altstadtwache reagierte die Führungsetage: Die Wache Oberkassel wurde zur Außenstelle der Mitte, das Personal auf die Altstadtwache verteilt.

Dort sah man sich, nun zwar verstärkt, weiter mit dem konfrontiert, was polizeiintern längst der „ganz normale Altstadtwahnsinn“ hieß. 2004 etablierte die Polizei anstelle des Interventionstrupps eine neue Einheit: Prios trat noch ein bisschen breitschultriger auf, machte klare Ansagen. Die Devise hieß: Null-Toleranz gegen Gewalt, aber auch gegen Pöbeleien und im Vorbeigehen dahingeworfene Beamtenbeleidigungen. Ein Jahr später folgte die Videobeobachtung auf dem Bolker Stern, lange politisch umstritten wurde sie kurz vor der Landtagswahl 2005 in Betrieb genommen.

Doch die neue Generation der Altstadtgänger zeigte sich von starker Polizeipräsenz kaum noch beeindruckt. Im Gegenteil: Wo Beamte einschritten, etwa, um zwei sich Prügelnde zu trennen, sah sich das früher tatenlos gaffende Publikum nun bemüßigt, sich einzumischen. Teils solidarisierten sich rivalisierende Gruppen dann plötzlich gegen die Beamten. „Zu zweit konnte man nicht mehr Streife gehen. Die Beamten brauchten Kollegen, die sie sicherten, während sie ihre Arbeit taten“, sagt ein ehemaliger Altstadt-Polizist. Und nicht selten war die Verstärkung dann vielleicht in anderen Einsätzen fern der Altstadt gebunden. All das war zwar durchaus bekannt. Doch weil die Polizisten die Lage am Ende ja doch irgendwie im Griff behielten, blieb alles bei Alten.

Der Wutbrief aus der Wache sollte 2008 die Vorgesetzten aufrütteln. Dass er der Rheinischen Post zugespielt und veröffentlicht wurde, hatte der Verfasser nie geplant. „Aber es war das Beste, was uns passieren konnte“, heißt es heute oft. Ein schon damals führender Beamter sagt: „Ohne die Veröffentlichung hätte alles noch viel länger gedauert.“ Vor allem, wenn’s um gewachsene Strukturen geht, zeichnete sich die Polizei „durch ein enormes Beharrungsvermögen aus“, sagt der Beamte.

Davon konnte im November 2008 nun keine Rede mehr sein. Keine zwei Wochen nach dem Brief stellte die Polizei ein neues Handlungskonzept „Sichere Altstadt“ vor. Polizeipräsident Herbert Schenkelberg kündigte für aufsässige Altstadtrandalierer Aufenthaltsverbote von bis zu mehreren Wochen an. Durchsetzen sollten diese nicht mehr die Altstadtwache allein. Aus anderen Dienststellen wurden für die Wochenenden Kollegen hinzugeholt, die Nachtdienst-Besetzung verdoppelt. Partynächte in der Altstadt galten ab sofort nicht mehr als normale Alltags-, sondern als besondere Einsatzlage. Innnenminister Ingo Wolf gestand den Düsseldorfern – zögernd, aber immerhin – im Bedarfsfall Unterstützung durch Bereitschaftspolizei zu. Nach Fußballspielen musste nun nicht mehr die Altstadtwache allein die „Dritte Halbzeit“ der Fans bewältigen. Und wer sich von der nun deutlich sichtbaren Uniform-Präsenz nicht beeindrucken ließ, der scheute am Ende wenigstens vor den Polizeipferden zurück, denn auch die – inzwischen aufgelöste – Reiterstaffel gehörte zum Konzept „Sichere Altstadt“.

Zudem hatten nach Bekanntwerden des Brandbriefs auch die Stadt und die Gemeinschaft der Altstadtwirte Ideen und konkrete Angebote beigesteuert. „Natürlich ist uns das irgendwie auch gegen den Strich gegangen“, erinnert sich der langjährige Altstadtpolizist, „dass es da plötzlich in der Zeitung hieß ,Alle wollen der Polizei helfen’.“ Andererseits waren die Beamten angenehm überrascht von der großen Solidarität aus der Stadtgesellschaft.

Und die ist geblieben. Man arbeite gut mit dem städtischen Ordnungsdienst zusammen, auch die Kooperation mit den Wirten sei gut, sagt Jürgen Bielor, der seit sechs Jahren Chef der Polizeiinspektion Mitte ist. Auch das gehört zur Wahrheit der schlimmen Jahre: An der Spitze der Dienststelle hatte es häufige Personalwechsel gegeben, den Ordnungspartnern fehlte ein kontinuierlicher Ansprechpartner. Heute kann Bielors Altstadtpolizei auf ein festes Netzwerk bauen. „Und vor allem unsere eigenen Strukturen sind viel klarer als damals“, sagt Bielor.

Die Zahl der Junggesellenabschiede hat nicht abgenommen, auch der Alkoholisierungsgrad mancher Altstadtbesucher ist bisweilen problematisch. Die „Phänomene“, wie die Polizei wiederkehrende Ereignisse nennt, mit denen sie sich auseinandersetzen muss, „sind geblieben“, sagt Bielor. „Aber wir, die Polizei, sind jetzt darauf eingestellt.“ Das fängt schon damit an, dass die Beamten in der Altstadt heute aktiv auf auffallende Gruppen zugehen. Mit sogenannten Gefährderansprachen wird denen klargemacht: „Wir haben euch im Blick, ihr könnt euch heute hier nichts erlauben.“ Seitdem blieben auch die Unruhestifter, die die Auseinandersetzung mit den Polizisten gezielt gesucht hatten, der Altstadt fern.

2010 wurde das Konzept, das nach dem Brandbrief mit ungewohntem Tempo entwickelt worden war, mit Hilfe des LKA evaluiert und fortgesetzt. Als „Konzept 2020“ gilt es bis heute. Verändert wurde es noch einmal nach der Silvesternacht 2015. Wenn auch in deutlich geringerem Ausmaße war es auch in Düsseldorf zu serienweisen Übergriffen auf Frauen gekommen.

Für die Altstadt bedeutete diese Nacht eine weitere Zäsur. In den so genannten Konzeptnächten, also an den Wochenenden, vor Feiertagen und im Karneval, ist seitdem die Unterstützung der Hundertschaft selbstverständlich (wenn sie nicht ausnahmsweise bei Großeinsätzen wie am Hambacher Forst gebunden ist). Seit jener Silvesternacht ist die Videoüberwachung ausgeweitet und eine Lichtanlage an der Freitreppe installiert worden, die der Polizei ermöglicht, wenn’s brenzlig wird, den Platz taghell zu machen. Bundesweit gibt es das nur bei der Altstadtpolizei, die außerdem im vorvergangenen Jahr auch noch eine neue, hochmoderne Dienststelle bezogen hat.

Es ist vielleicht nicht alles perfekt. Aber Jürgen Bielor und seine Vorgesetzten im Präsidium rechnen so bald nicht wieder mit Post aus den eigenen Reihen.

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