Gabriele Polland "Überlastete Eltern misshandeln ihre Kinder"

Düsseldorf · Die Leiterin der Kinderschutzambulanz am Evangelischen Krankenhaus sagt, warum Eltern ihre Kinder körperlich oder auch seelisch misshandeln und wie das Team der Ambulanz Eltern und vor allem betroffenen Kindern helfen will.

 Gabriele Polland in einem Spieldiagnostik-Zimmer der Kinderschutzambulanz, in dem man im Gespräch mit den Kindern klären will, ob sie vernachlässigt oder missbraucht wurden.

Gabriele Polland in einem Spieldiagnostik-Zimmer der Kinderschutzambulanz, in dem man im Gespräch mit den Kindern klären will, ob sie vernachlässigt oder missbraucht wurden.

Foto: Hans-Jürgen Bauer

Frau Polland, welche Fälle von Kindesmissbrauch behandeln Sie?

Polland Als die Kinderschutzambulanz 1988 gegründet wurde, standen der körperliche, der sexuelle Missbrauch von Kindern im Mittelpunkt, dann kam die Vernachlässigung hinzu, inzwischen immer mehr Fälle von seelischer Misshandlung.

Was sind das für Fälle?

Polland Jedes Jahr sehen wir rund 300 Kinder und Jugendliche. Viele stammen aus hochstrittigen Familien mit getrennt lebenden Eltern, in denen sie immer wieder in Streitigkeiten miteinbezogen, instrumentalisiert oder ausgefragt werden, was beim anderen Elternteil passiert ist. Oft werden die Kinder erniedrigt, es wird alles schlecht gemacht oder entwertet, was sie machen.

Kommen die Familien von sich aus auf Sie zu?

Polland Ja, das kommt durchaus vor. Und es gibt auch Fälle, in denen sich die Mutter meldet, weil das Kind nach Besuchen beim Vater verstört wirkt. Wir kriegen aber auch Hinweise vom Jugendamt, von Kitas, Kinderärzten und Schulen. Wichtig für unsere Arbeit ist, dass wir das Einverständnis aller Sorgeberechtigten haben.

In welchem Zustand sind die Kinder, wenn sie zu Ihnen kommen?

Polland Einigen kann man nichts ansehen, andere haben körperliche Verletzungen, Sprach- oder Entwicklungsstörungen. Man sieht manchen sofort an, dass sie bedrückt und ganz vorsichtig und zurückhaltend im Kontakt sind. Bei Vernachlässigung sind die Kinder teils nicht gut gepflegt, einige Kinder sind unter-, einige auch überernährt, weil sie sich die vermeintliche Zuwendung aus dem Kühlschrank holen. Einige sind aggressiv, schreien und machen Gegenstände kaputt.

Wo setzt Ihre Arbeit an?

Polland Die Diagnostik ist der Schwerpunkt unserer Arbeit in der Kinderschutzambulanz. Wir führen dazu in der Regel drei Gespräche mit den Eltern und etwa sieben mit dem Kind. Wir sprechen und spielen mit dem Kind und führen Testverfahren durch.

Was sind das für Tests?

Polland Wir lassen ein Kind zum Beispiel Sätze vollenden über andere Kinder gleichen Alters und Geschlechts. Dann fragen wir vorsichtig: "Wie ist das denn bei dir?" Wir führen auch Intelligenz- und Entwicklungstests durch. Manchmallassen wir die Kinder auch ihre Familie mit Holztieren aufstellen.

Wie hilft das bei der Diagnostik?

Polland Wir fragen: "Warum hast du das Tier ausgewählt? Was verbindest du mit ihm? Was hat das mit deiner Mama zu tun?" In der letzten Sitzung besprechen wir mit dem Kind, was wir den Erwachsenen sagen. Oft kriegen wir konkrete Aufträge: "Sag' Mama, sie soll nicht immer schreien. Sag Mama und Papa, dass sie nicht immer streiten sollen." Einige haben aber auch Angst, was passiert, wenn wir mit den Eltern sprechen.

Wie reagieren die Eltern auf die Diagnose?

Polland Viele sind besorgt und sagen, dass sie das so nicht gewusst oder gesehen haben. Viele sind überrascht, was das Kind alles mitbekam, weil sie dachten, dass es schlief und von den Streitigkeiten und der Gewalt nichts hörte. Manche Eltern sind abwehrend und sagen: "Das habe ich nicht gesagt, nicht gemacht." Unsere Aufgabe ist es dann, den Eltern zu zeigen, dass dies die Sichtweise des Kindes ist und es uns um die Sorge um das Kind geht, und nicht darum, nachzuweisen, dass die Eltern womöglich keine guten Eltern sind. Einige sind auch hilflos und fragen, was sie tun sollen. Aber dafür sitzen wir ja zusammen. Über die Gewalt in der Familie hinaus gibt es ebenso Fälle, in denen die Misshandlung durch Mobbing in der Schule oder Nicht-Familienangehörige erfolgt.

Was empfehlen Sie den Eltern?

Polland Eine ambulante, manchmal auch stationäre Therapie des Kinds, in einigen Fällen Logopädie oder Ergotherapie oder auch pädagogische Maßnahmen über das Jugendamt. Manchmal schlagen wir die Unterbringung der Kinder in einer Einrichtung oder Pflegefamilie vor. Den Eltern zeigen wir Hilfsangebote auf wie Psychotherapie, Paarberatung oder den Besuch einer Elternschulung wie beispielsweise "Caring Dads" oder "Caring Mums" bei der Diakonie.

Warum misshandeln Eltern ihre Kinder?

Polland Oft aus Hilflosigkeit, Überforderung oder Unkenntnis. Manchmal behandeln Eltern ihre Kinder so, wie sie als Kinder behandelt wurden: Sie schlagen das Kind, wenn es nicht gehorcht. Wenn es zu Übergriffen oder Vernachlässigung aus Überforderung kommt, dann ist das bei den Eltern oft schambesetzt, sie haben Schuldgefühle.

Sind die Eltern bereit, ihr Verhalten zu ändern?

Polland Es gibt extreme Fälle, in denen die Bereitschaft nicht da ist. Dann muss man schauen, welche Hilfen die Familie noch braucht oder ob das Kind ganz oder zeitweise außerhalb der Familie leben sollte. Aber in der Regel lieben auch misshandelnde Eltern ihr Kind, auch wenn das erst einmal schwer verständlich klingt, und sie wollen, dass es ihm gut geht. Und daher sind Eltern bereit, sich zu ändern.

Was können Eltern im Sinne von Prävention tun?

Polland Das kann ganz früh anfangen. Wenn Eltern den Eindruck haben, dass sie in bestimmten Situationen überfordert sind, zum Beispiel meinen, dass das Baby nie schläft oder immer schreit, sollten sie sich Rat und Unterstützung holen, etwa in unserer Babysprechstunde. Bei Kleinkindern kann es ein Warnzeichen sein, wenn sie abwesend wirken oder nicht richtig schlafen und essen.

Gibt es ein Kind, das Sie auch im Nachhinein noch sehr beschäftigt?

Polland Ja, mir fällt eine Familie ein, bei der erst unklar war, wie kindgerechtes Zusammenleben ohne Gewalt klappen könnte. Im Laufe unserer Arbeit hat die Familie mich dann mit ihren Ressourcen und ihrem Willen zu Veränderung sehr überrascht, wodurch eine gute Lösung im Sinne aller möglich wurde.

SEMIHA ÜNLÜ FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(RP)
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