Heimatreporter Gerresheims Aura

Gerresheim · Unser Autor verbrachte einen Nachmittag in Gerresheim. Vielleicht lässt er sich jetzt ein Tattoo stechen.

 Auf dem alten Markt mit dem roten Kies ist der Dorfkern in Gerresheim.

Auf dem alten Markt mit dem roten Kies ist der Dorfkern in Gerresheim.

Foto: Hans-Juergen Bauer (hjba)

Zur Isa. Zum Salamander. Zum Deutschen Kaiser. Herrgott, wo war ich gelandet? Die Blutskapelle wollte ich besichtigen. Der Name hatte es mir angetan. Stattdessen sah ich Kneipen, mit Namen, die zwar sprechend waren, die mich aber überhaupt nicht ansprachen. Außerdem regnete es in Strömen. Vorbehaltlos war ich nach Gerresheim gefahren. Nicht ahnend, dass es ein oberes und ein unteres gibt. Nach einer Weile war ich das Herumgekurve leid, steuerte die Basilika St. Margareta an (vielleicht war die Kapelle dort zu finden) und staunte, wie idyllisch das Viertel war. Kopfsteinpflaster, enge Gassen, alte, hübsche Häuschen, nette Gastronomie, Grün.

Ich parkte vor einem Supermarkt und fragte eine Dame, wo Gerresheim am schönsten sei. Sie breitete die Arme aus: „Hier, am Kölner Tor!“ Ich: „Ich bin Kölner. Das kann kein Zufall sein. Das ist meine Straße! Ist hier zufällig auch die Blutskapelle?“ Sie: „Die ist im anderen Gerresheim, im unteren. Etwas versteckt, beim Bunker.“ Ich: „Wo auch das Lokal Zum Deutschen Kaiser ist?“ Sie: „Ja, ganz in der Nähe.“ Dabei machte sie einen Gesichtsausdruck, der es fraglich erschienen ließ, ob ich das untere Gerresheim wirklich besichtigen sollte.

Es hatte aufgehört zu regnen. Exakt seit ich am Kölner Tor aus meinem Wagen gestiegen war, regnete es nicht mehr. Das konnte ebenfalls kein Zufall sein. Und am allerwenigsten konnte es ein Zufall sein, dass ich kurz darauf wegweisende Antworten auf eine der ältesten Fragen bekam, die mich beschäftigen.

Über Gerresheim heißt es, dass es wie eine Stadt in der Stadt sei. In sich abgeschlossen, sozusagen autonom. Das Viertel am Kölner Tor schien mir ganz besonders autonom zu sein. Alter Markt, das ist nicht nur der Name einer Straße. So heißt auch der kleine, rot gekieste und äußerst gepflegte Platz, der von mächtigen alten Ahornbäumen gleichsam überdacht ist. Dort sah ich eine Handvoll Boulespieler – die berühmten Gerresheimer Boulespieler, deren Verein 2017 als bester kleiner Sportverein in Düsseldorf ausgezeichnet wurde.

Ein herausgeputzter mittelalterlicher Dorfkern in der französischen Provence kann nicht reizvoller sein als Gerresheim, Ecke Kölner Tor. Wozu überhaupt weit reisen? Ich entdeckte das Beginengässchen. Noch so ein Name, der mich anzog. Wer waren die Beginen? Ich fragte eine Gruppe von vier Frauen, ob sie es vielleicht wüssten. Eine antwortete, das seien mittelalterliche Gemeinschaften von Frauen gewesen, die sich zusammentaten, um ohne Männer zu leben. Ich: „Ungefähr so wie Sie gerade?“ Sie, lachend: „Wir sind wahrlich keine Beginen!“ Mir fiel auf, dass die vier, die allesamt die Zwanzig weit überschritten hatten, extrem tätowiert waren, an den Armen, auf der Brust, quasi überall, sofern ich das erkennen konnte. Außer Gesicht, Hals und Hände. „Ja“, sagte die Frau, „Tattoos lieben wir alle!“

Mit Tattoos habe ich ein Problem. Es besteht darin, dass ich seit 20 Jahren eins möchte, aber nicht weiß, was für eins. Auf dem Gerricusplatz stand ich an dem offenen Bücherschrank, der sehr gut bestückt war. Drei Personen traten hinzu, ein älteres Paar und eine Frau, die vielleicht die Tochter war. Jedenfalls war sie ebenfalls in einem reiferen Alter – und stark tätowiert. Als kennten wir uns seit Kindertagen, erzählte sie mir die Geschichte ihrer Tattoos: Wie es anfing mit der Lilie auf dem Rücken, die sie sich als Zeichen der Hoffnung hatte stechen lassen, nachdem ihr Freund an Leukämie erkrankt war (er überlebte zum Glück). Ich vermute, es hatte mit der Aura des Gerricusplatzes zu tun, vielleicht mit der einladenden Aura des oberen Gerresheims insgesamt, vielleicht auch mit der Nähe der vielen Bücher, die etwas Ausgleichendes, Beruhigendes ausstrahlten, dass nichts Fremdes zwischen uns zu stehen schien. Ich: „Ich möchte seit Langem ein Tattoo. Aber ich finde kein Motiv. Was soll ich tun?“ Sie: „Sich einfach eins stechen zu lassen, ist blöd. Du brauchst eine Geschichte. Dein Tattoo braucht eine Geschichte. Wenn du auf dein Motiv stößt, merkst du es sofort.“

Wie ich um eine Häuserecke ging, kam mir eine der vier tätowierten Frauen, die keine Beginen waren, entgegen. Wir sprachen noch einmal über Tattoos. Sie sagte, das Motiv sei im Grunde egal. Ihr erstes Tattoo – „eine verlorene Wette“ – sei ein Obstkorb im barocken Stil gewesen, schön mit Totenschädel daneben. „Du musst zum richtigen Tattookünstler gehen, das ist das Wichtigste. Am besten zu einem, der Kunst studiert hat.“ Sie gab mir eine Adresse. Ich dankte und stieg in meinen Wagen ein, der gegenüber geparkt war. Im nächsten Moment fing es wieder zu regnen an.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort