Interview Martin Kaltwasser Kunst im sozialen Brennpunkt

Der Wittenberger Weg wird von der Stadt als „Sozialraum mit sehr hohem Handlungsbedarf“ beschrieben. Der Künstler Martin Kaltwasser hat zwei Wochen vor Ort gelebt und Kunst gemacht. Im Interview beschreibt er seine Eindrücke.

 Martin Kaltwasser im Wittenberger Weg.

Martin Kaltwasser im Wittenberger Weg.

Foto: Endermann, Andreas (end)

Herr Kaltwasser, Sie haben zwei Wochen am Wittenberger Weg gearbeitet. Wie kommt ein Professor für Plastik an der Technischen Universität Dortmund in ein Problemviertel in Garath?

Kaltwasser Ich bin durch das Stipendium Artists am Wittenberger Weg hierher gekommen. Dieses wird von der Künstlerin Ute Reeh, die sich schon seit vielen Jahren intensiv mit dem Viertel befasst, und ihrem Zentrum für Peripherie ausgeschrieben.

Ein Kontrast zu Ihrer Tätigkeit als Professor.

Kaltwasser Nicht unbedingt. Sowohl habe ich vielfach in sogenannten sozial schwierigen Gegenden gelebt als auch immer wieder künstlerisch vor Ort gearbeitet. In der Corona-Situation ist die Hochschularbeit stark auf den Gebrauch digitaler Medien ausgerichtet. Demgegenüber eröffnen diese persönlichen Kontakte hier eben andere umfassende Formen der Kommunikation und Begegnung.

Begegnungen hatten Sie hier auf jeden Fall. Wie haben Sie die Menschen hier am Wittenberger Weg erlebt?

Kaltwasser Es ist hier natürlich bekannt, dass es diese kleine Gastkünstlerwohnung gibt, wo immer wieder Leute auftauchen, die aus ganz anderen Ecken der Welt herkommen und hier für eine Weile wohnen und zumeist kreativ arbeiten und viele besondere Dinge entwickeln. Vielleicht ist aber dennoch immer ein wenig Skepsis zunächst vorhaden: Wer ist das nun schon wieder? Was macht er hier? Man kennt sich hier ja untereinander. Die Kinder sind offen, geradezu gierig nach Aufmerksamkeit und Beschäftigung. Mit ihnen bin ich sehr schnell und intensiv in Kontakt gekommen – und sie haben mir sofort von ihrem Leben und ihren Problemen erzählt, und mit mir zusammen an dem Kunstwerk gearbeitet, das ich in meiner Zeit hier entwickelt habe.

Die Zahlen der Siedlung sind verheerend. Eine Arbeitslosenquote von 36 Prozent, der dreifache Jugendquotient im Stadtvergleich und eine Übergangsquote zum Gymnasium von nicht einmal sechs Prozent, wo es im Durchschnitt die Hälfte ist. Was passiert, wenn man in einem solchen Kontext Kunst macht?

Kaltwasser Ich bin überzeugt, dass Kunst auch Menschen erreichen kann, die in ihrem Alltag wenig Berührungspunkte damit haben. Viele Kinder kennen Kunst zunächst nur als Schulfach, und oft ist ihnen nicht so bewusst, wie sie in ihrem Alltag auch kleinste künstlerische Handlungen permanent spielerisch vollführen, zum Beispiel etwas gedankenverloren kneten, zusammenfügen, basteln, oder ihren Gefühlen wild-zeichnerisch freien Lauf lassen. Ich bin mit meiner Arbeit hier, in ihrem Lebensumfeld. Und natürlich begegne ich ihnen mit Respekt und ohne den Leistungsdruck des Unterrichts. Über mein künstlerisches Tun habe ich hier tolle Menschen kennengelernt, viel Hilfe bei der Arbeit bekommen. Und auch die Erwachsenen wissen es zu schätzen, wenn jemand hier tatsächlich Tag und Nacht in ihrer Siedlung verbringt und diese sehr sorgfältig um ein kleines Stück Kunst ergänzt.

Sie haben in Ihrer Zeit hier die Fassade einer Sperrmüllgarage umgestaltet.

Kaltwasser Genau. Ich arbeite mit Holzresten aus der Garage selbst und mit Abfällen einer Schreinerei aus Benrath. Am Ende ist ein vollflächiges Mosaik entstanden, quasi eine Collage aus Holz. Eine ganz ähnliche Arbeit kommt auch an die Fassade eines Nachbarhauses.

Und das haben Sie nicht allein gemacht.

Kaltwasser Nein, das ist nicht der Sinn der Sache. Die Kinder aus der Siedlung sind jeden Tag bei mir gewesen und halfen mir und die ganze letzte Woche waren auch Schüler der Alfred-Herrhausen-Schule mit ihren Lehrerinnen im Rahmen einer Projektwoche dabei. Die Zusammenarbeit ist toll, wenn auch manchmal ein wenig anstrengend. Aber ich bin froh, hier zu sein, diese Erfahrung zu machen – mein ausdrücklicher Dank gilt dabei auch an den Eigentümern der Häuser, der SWD. Ich gestalte hier auf Vertrauensbasis einen Teil des öffentlichen Raums um, das ist nicht

selbstverständlich.

Wie unterscheidet sich Kunst in einer Siedlung wie dem Wittenberger Weg von dem, was man in den Museen finden kann?

Kaltwasser Das ist vielleicht wie der Vergleich zwischen Straßenfußball und Bundesliga. Hier draußen, auf der Straße, sind die Regeln andere. Ich bin offen in dem, was ich tun will. Es gibt keinen Galeristen, keinen Direktor, der seine Ansichten einbringt und mit dem sich ein langer Austausch entwickelt. Und das Feedback der Menschen hier ist direkt. Kunst muss sich direkt erschließen, und sie muss etwas tun, wie beispielsweise dieser sehr robusten, einfachen Lagergarage ein neues Gesicht zu geben.

Wie gut eignet sich ein schwieriger Sozialraum wie dieser als Hintergrund für Kunst?

Kaltwasser Architekten sprechen gerne vom Genius Loci, dem Geist eines Ortes. Genau den gibt es hier. Die Menschen bewegen sich rund um meine Kunstwerke, treten in Dialog. Da steckt sehr viel Energie drin.

Was nehmen Sie von Ihrer Zeit am Wittenberger Weg mit?

Kaltwasser Es ist ein Privileg, hier arbeiten zu dürfen. Und das meine ich ernst, ohne Ironie. Und vielleicht liegt die Zukunft der Kunst wirklich eher in der Peripherie als in den überteuerten, durch Gentrifizierung erstarrenden urbanen Zentren.

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