Benrath Ein Augenblick

Benrath · Nicht viele Menschen sind in die Kirche gekommen, so kurz vor Weihnachten. Weil der Alltag weitergeht, sie Geschenke kaufen müssen und Lebensmittel. Damit das Fest so besinnlich wird, wie sie es sich wünschen.

 Heute wird St. Cäcilia voll sein. Gestern, einen Tag vor Weihnachten, hat das aber noch ganz anders ausgesehen.

Heute wird St. Cäcilia voll sein. Gestern, einen Tag vor Weihnachten, hat das aber noch ganz anders ausgesehen.

Foto: anne Orthen

Es ist nur ein kleiner Zettel, der an der Glastür hinter dem Seiteneingang hängt; vier Worte, die einem aber sofort ins Auge stechen: "Diese Kirche ist videoüberwacht." Eindringliche Worte, die in diesen Tagen wohl noch mehr an Bedeutung gewinnen als jemals zuvor. Worte, die groß sind und immer größer werden. In Tagen der Angst, der Verunsicherung, der Trauer. Zwölf unschuldige Menschen mussten sterben, weil ein Mann das so entschieden hat. Und trotzdem geht das Leben weiter hier in Benrath, der Alltag, die Weihnachtszeit.

Die Menschen lassen sich nicht abbringen von der Hektik. Sie klemmen Geschenkpapierrollen unter den Arm, kaufen Blumenläden leer und schleppen Tüten voller Essen und Getränke nach Hause. Niemand scheint sich daran zu erinnern, was geschehen ist am Montagabend, in Berlin, auf dem Weihnachtsmarkt. Ich will einen Moment innehalten und Ruhe finden, einen Augenblick das Jahr revue passieren lassen - Nizza, Istanbul, Berlin - ich will weg von der Einkaufsstraße und den Geschäften, ein paar Minuten einfach nur so dasitzen. Schon lange war ich nicht mehr in der Kirche, einfach so - allein, ohne ein Hochzeitspaar oder ein Taufkind oder einen Menschen, den ich verabschieden muss.

Still ist es in St. Cäcilia, als ich durch den Seiteneingang und die Glastür mit dem Zettel gehe. Und dunkel. Meine Schritte hallen durch den Raum, eine Frau dreht sich kurz zu mir um. Sie trägt eine dicke Winterjacke und den Rucksack auf den Schultern - bequem schaut das nicht aus. Während ich sie anstarre, hat sie ihre Augen längst wieder nach vorn gerichtet, auf die Krippe, die sie sich später noch von Nahem angucken wird. Wir sind allein, eine ganze Weile, und meine Gedanken fangen langsam an zu kreisen. Ich denke an Westerwelle und Genscher, an Muhammad Ali und Roger Cicero, und wundere mich, dass so kurz vor Weihnachten so wenige Menschen in die Kirche gehen. Nur die Frau und ich, minutenlang, kein Geräusch, kein Wort. Irgendwann steht sie auf, die Gummisohlen ihrer Schuhe sind wie gemacht für den Gang durch die Kirche, ganz im Gegensatz zu meinen Absätzen. Nur ihr Gehstock hinterlässt bei jedem zweiten Schritt ein leises Plopp, das sich in der Kirche ausbreitet.

Und dann bin ich allein. Zumindest glaube ich das. Denn hinter einer Säule hat sich die ganze Zeit eine Frau in einem roten Pullover versteckt. Sie hat die Weihnachtssterne gepflegt, die neben dem Altar stehen, ein wenig Erde nachgefüllt in die Töpfe, welke Blätter abgezupft. Sicher für die Gottesdienste heute, die Kirche soll gut aussehen an Weihnachten, wenn viele Menschen kommen. Auch in der Kirche ist noch viel zu tun vor dem Fest.

Die Frau ist eifrig, aber still, bald vergesse ich wieder, dass sie da ist. Man kann gut vergessen in der Kirche, die Welt da draußen und den Stress. Die Geschenke, die zu Hause im Flur stehen, die ich noch verpacken muss und den Kühlschrank, der so gähnend leer ist, dass ich eigentlich den Stecker ziehen könnte. Wieder knarren die Türen, diesmal kommt eine Frau mit einem Kinderwagen rein. Eine ältere, vermutlich schiebt sie gerade ihr Enkelkind vor sich her, dem sie die Figuren aus dem Krippenspiel erklärt.

So schnell die beiden gekommen sind, so schnell gehen sie dann auch wieder - kein Gebet, kein Knicks, kurz hält sie einem jungen Mann die Tür auf und verschwindet dann im Trubel. Der Mann setzt sich schräg hinter mich, obwohl so viele Bänke leer stehen. Es ist zwar noch viel Platz zwischen uns, trotzdem fühle ich mich ein bisschen eingeengt. Ich drehe mich wieder nach vorn, und irgendwann ist es mir egal, ob jemand da sitzt oder reinkommt, ob die Frau im roten Pulli an den Weihnachtssternen zupft oder Absätze klackern. Irgendwann lasse ich los und atme den Weihrauch ein und genieße das schummrige Licht.

Ich weiß nicht, ob viele Leute in die Kirche an diesem Tag gekommen sind oder wenige, weil ich selten in der Kirche bin. Ich weiß nur, dass es auch mal mehr waren, gerade in schlimmen Zeiten wie diesen. Nach dem 11. September 2001 brannten unzählige Kerzen in den Gotteshäusern Deutschlands, in den Kirchen auf der ganzen Welt. Heute, Dutzende Anschläge und tausende Tote später, brennen noch immer Kerzen, aber die Zahl ist geringer. Eine Handvoll Lichter flackern in St. Cäcilia. Vielleicht, weil Nizza und Istanbul und Berlin weit weg sind, vielleicht, weil das Leben weitergehen muss. So ist das wohl mit dem Alltag, der gut ist und ablenkt und die Menschen motiviert, weiterzumachen. Aber wir sollten nicht vergessen, nicht in Benrath und auch nicht anderswo. 30 Cent krame ich aus meinem Portemonnaie, zwei Zehner, den Rest Kupfermünzen. Mein letztes Kleingeld, das ich in den Spalt werfe, damit ich eine Kerze anzünden kann. Für die lieben Menschen, die nicht mehr hier sind, und auch jene, die ich nicht gekannt habe.

Ich gehe wieder durch die Glastür mit dem Zettel. Auch wenn die Sonne nicht scheint, blendet das Licht. Einen Moment brauche ich, bis ich zurück bin, in der hektischen Welt, wo die Menschen Kisten balancieren und Bestellungen aufgeben, für das besinnliche Weihnachtsfest, das sich so vielen wünschen - in diesen Tagen mehr denn je.

(RP)
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