Düsseldorf "Mein Sohn Nico hat mich geerdet"

Düsseldorf · Sechs Jahre ist es her, dass Petra Fuchs ihr jüngstes Kind begraben musste. Sein Lächeln wird ihr immer fehlen.

 Petra Fuchs und Dirk Tefke vermissen Nicos Lächeln. Die Reaktionen anderer auf den Tod des Jungen macht sie traurig,

Petra Fuchs und Dirk Tefke vermissen Nicos Lächeln. Die Reaktionen anderer auf den Tod des Jungen macht sie traurig,

Foto: Andreas Bretz

Ihr großes Glück sind die Träume. Sie kommen nicht oft. Aber wenn sie kommen, dann sind sie wunderbar. Dann spielt sie mit Nico. Dann redet er mit ihr. Und manchmal läuft er auf sie zu. Das Aufwachen, wenn sie wieder begreifen muss, dass es nur ein Traum gewesen ist, tut dann besonders weh.

Nico Fuchs war noch nicht bereit für die Welt, in die er am 25. Mai 2003 geholt wurde. Seine Eltern hatten sich nicht einmal für einen Namen entschieden. Wer hat das schon, in Schwangerschaftswoche 28? "Säugling Fuchs" stand auf dem Zettel an seinem Inkubator, in dem er, verdrahtet und verkabelt wie ein winziger Außerirdischer, wachsen sollte. Bis seine Eltern drei Tage später im Vornamenbuch zum "N" kamen, nannte Mama Petra ihren Zweitgeborenen "Socke".

In diesen drei Tagen hatte Säugling Fuchs seinen ersten Überlebenskampf schon hinter sich. Vier Stunden lang hatte er alles getan, was von einem Frühchen seines Alters erwartet wurde. Dann brach der Kreislauf in dem winzigen Körper zusammen. Petra Fuchs hatte davon nichts mitbekommen. Die Komplikation, die zum Notkaiserschnitt geführt hatte, hatte sie viel Blut gekostet. Erst am Tag nach der dramatischen Entbindung hat sie ihr Baby zum ersten Mal gesehen. Sie fühlte sich schwach und erschöpft, "aber Angst um mein Kind hatte ich nicht. Ich habe nie daran gezweifelt, dass Nico leben würde."

Die Eltern erfahren, dass Nicos Überlebenschancen auf der Intensivstation sehr gut sind. Die Ärzte klären sie aber auch über mögliche Risiken auf. Alles, was an Komplikationen theoretisch denkbar ist, tritt bei Nico ein — und immer besonders heftig. Nierenversagen, Leistenbrüche. Eine schwere Gehirnblutung. Ob sie ihren Sohn taufen lassen will, fragen die Ärzte nach anderthalb Wochen. Petra Fuchs lehnt das kategorisch ab. Die Taufe wäre ihr erschienen " wie ein Freibrief, sich davon zu machen." Den will sie Nico nicht geben.

Der ist elf Wochen alt, als er zum ersten Mal am Gehirn operiert wird, mit 22 Wochen folgt die zweite Gehirn-OP. Kurz danach sieht Petra ihren Sohn zum ersten Mal ohne all die Kabel und Schläuche — die Krankenschwestern in der Diakonie haben ihn nach der Operation für sie fotografiert. Socke ist ein richtig hübscher Kerl.

Sein Gehirn, sagen die Ärzte, ist geschädigt. Ob das eine Entwicklungsverzögerung bedeutet, oder nur, dass er mal eine Fünf in Mathe kriegen wird, wissen sie nicht. Ihr Kind ist wie ein neuer Computer, sagen sie. Was die Eltern ihm beibringen können, wird auf seine Festplatte geschrieben. "Je mehr Input er bekommt, desto mehr wird er lernen", folgert Petra und beschließt, nicht an Spätfolgen zu denken.

Dafür hat sie ohnehin keine Zeit. Sie hat einen Haushalt zu versorgen, ihren Sohn Tom, der in den Kindergarten muss. Für Nico schreibt sie Tagebuch, damit sie ihm später einmal erzählen kann, wie es war, als er geboren wurde. Die Schwestern aus der Kinderintensiv-Station erzählen ihr später, dass in dieser Zeit Nicos Zustand zwei Mal dramatisch zu werden schien. Dann haben sie zu ihm gesagt, "entweder reißt du dich jetzt zusammen, oder wir rufen deine Mama an." Beide Male wurden Nicos Werte schlagartig normal, wenn sie zum Hörer griffen.

"Nico verlangt nach Service", ist die Formulierung, die sich schnell einbürgert, wenn Nicos Maschinen piepsen (und er hat mehr als dreimal so viele wie andere Frühchen). Denn tatsächlich normalisiert sich sein Zustand schnell, wenn er die volle Aufmerksamkeit der Station oder der Eltern hat.

Ungefähr zur Zeit des ursprünglich errechneten Geburtstermins darf Petra ihren Sohn zum ersten Mal im Arm halten. Als Jasper, dessen Inkubator neben dem von Nico stand, kurz darauf stirbt, hat sie "fast ein schlechtes Gewissen, weil mein Kind lebte und es ihm immer besser ging."

Als Nico nach Hause darf, ist er vier Monate alt. Er hat, wie viele Frühchen, keinen Saugreflex, und der setzt auch nicht ein, als die Magensonde entfernt wird. Sogenannte Reflux-Störungen können vorkommen, heißt es. In ganz seltenen Fällen, sagt Nicos Arzt in der Diakonie, fehlt der Magenpförtner. "Nico war natürlich so ein Fall." Er muss wieder in die Klinik, die Ärzte rekonstruieren den winzigen Muskel.

Danach wird es nicht einfacher, Nico zu füttern. Wenn er überhaupt trinkt, dann nur bei Mama. Die lernt, Monate lang mit zwei, drei Stunden Schlaf am Tag auszukommen. Wer sie in dieser Zeit sieht, erlebt sie fast nur mit Nico auf dem einen Arm, während sie mit der freien Hand den Haushalt schmeißt. Eine heftige Zeit, sagt sie. Wenn Nico sie anlächelt, ist alles vergessen. Ein unsensibler Kinderarzt eröffnet in diesen Tagen ihrem Mann: "Das wird nix mit dem Jungen." Zum ersten Mal müssen sich die Eltern damit auseinandersetzen, ein behindertes Kind zu haben.

Ihre Beziehung beginnt zu zerbrechen. Sie kennen und lieben einander, seit Petra 14 und er 15 Jahre alt gewesen ist. Sie sind zusammen aufgewachsen. Nico stellt sie auf eine Probe, auf die sie nicht vorbereitet sind. Kurz vor Nicos zweiten Geburtstag zieht der Vater aus. Damals, sagt Petra Fuchs heute, ist sie erwachsen geworden. "Nico hat mich dazu gebracht, mein ganzes Leben infrage zu stellen. Und er hat mir geholfen, Antworten zu finden." Nico, sagt sie, "hat mich geerdet."

Irgendwie kriegt sie alles hin. Nico zur Frühförderung und zur Krankengymnastik zu bringen, die kleinen Ewigkeiten, die es noch immer dauert, ihn zu füttern. Wenn er mal wieder eine Lungenentzündung hat — und die hat er oft — nutzt sie die Zeit, in der er im Krankenhaus ist, sich besonders intensiv um Tom zu kümmern. Der ist schon damals, sagt sie, "ein Super-Typ", ein Kind, das die Bedürfnisse von Nico begreift und akzeptiert, dass er zurückstecken muss. "Tom hat sich nie beklagt, hat es mir in dieser Zeit unendlich leicht gemacht".

Manchmal meldet sie sich abends zum Chatten im Internet an. Und findet dort eine neue Liebe. Dirk ist nicht nur für sie da. Er akzeptiert auch Tom und schreckt vor der Verantwortung für Nicos besondere Bedürfnisse nicht zurück. Als Petra mit Tom in eine Kur fährt und Nico zum ersten Mal für ein paar Tage in der Obhut des Kinderhospizes lässt, kommt Dirk den Jungen dort jeden Tag besuchen. So viele Menschen aus ihrem früheren Leben hatten sich zurückgezogen, seit Nico da war. "Aber Dirk nahm ihn ganz selbstverständlich an — das war eine wunderbare Erfahrung."

Die Aufenthalte im Kinderhospiz Regenbogenland waren für Petra immer nur eine Kurzzeitpflege. Ans Sterben, an Nicos Sterben, hat sie nie gedacht. Auch nicht im Herbst 2007, als sie mit Dirk und Tom in die Herbstferien fuhr und an die Reise noch einen Besuch der Düsseldorfer Rehacare-Messe anhängte. Während sie dort einen geeigneten Kinderwagen für den inzwischen viereinhalbjährigen Nico suchte, kam der mit hohem Fieber ins Krankenhaus. Das hatte es schon oft gegeben. Fast immer war es eine Lungenentzündung.

Auch diesmal denkt Petra nicht an den Tod, als sie an Nicos Bettchen sitzt. "Ich bleibe, bis dein Fieber unter 38 Grad ist", handelt sie, wie schon so oft, mit ihrem Sohn. Doch das Fieber sinkt nicht. Nur eine Diagnose gibt es nicht. Erst als auch Dirk im Krankenhaus eintrifft, schnellen bei Nico sämtliche Werte in den roten Bereich. "Es war, als hätte er gewartet, bis seine Mama nicht mehr allein war."

Petra macht einen letzten Deal mit ihrem Kind: "Wenn du gehen willst, dann geh, ich bin dir nicht böse", sagt sie ihm. "Ich wollte, dass er weiß, dass er meinen Segen hat." Bald darauf ist Nico nicht mehr da, Dass sie ihm nicht böse wäre, sagt sie heute, "war gelogen. Ich hätte so gern mehr Zeit mit ihm gehabt."

Es gibt, auch in ihrem nahen Umfeld, Menschen, die glauben, Petra habe das Drama ihres Lebens hinter sich. Die denken, ihr Alltag werde leichter, weil sie sich nun endlich auch Zeit habe für sich und für ihren Ältesten. "Der hat sich doch eh nur gequält", sagen sie dann in tröstendem Tonfall über Nico, "der war doch so krank", und, dass es vielleicht besser so ist. Für Petra sind solche Sätze das Gegenteil von Trost. Denn ihr wird klar, dass ihr Sohn, dessen Lächeln sie so glücklich machen konnte, von vielen Menschen nie wirklich akzeptiert, nicht einmal wahrgenommen worden ist. Das zu erkennen, sagt sie, war das eigentliche Drama.

Mit Dirk und Tom ist sie inzwischen umgezogen. An der Wohnungstür steht auch Nicos Name. Denn er wird immer ein Teil ihres Lebens sein.

(RP)
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