Düsseldorf Was Heinrich Heine über Shakespeare dachte

Düsseldorf · Vor 450 Jahren wurde Englands größter Dramatiker geboren. Heine hat ihn 1839 in einem Essay gewürdigt - zum Geburtstag ein Auszug.

Kostbare Shakespeare-Ausgabe von 1623
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Er hat ihn bewundert, den "Weltergänzer" Shakespeare, den großen Dramatiker, der hellsichtig und unsentimental wie er selbst über das Leben schrieb. Im Sommer 1838 machte sich Heinrich Heine in Paris daran, einen Essay über "Shakespeares Mädchen und Frauen" zu diktieren. Der Text war eine Auftragsarbeit, er sollte eine Sammlung von Stahlstichen mit fiktiven Porträts einiger Frauenfiguren aus dem Werk Shakespeares zieren. Heine machte sein Augenleiden schwer zu schaffen, daher das Diktat, doch wurde seine Annäherung an Shakespeare umfangreicher als geplant.

Der Auftrag bot dem in Düsseldorf geborenen Autor Anlass, Shakespeares Heimat England mit beißendem Spott zu überziehen. Dabei erliegt Heine manches Mal der eigenen Wortgewalt: "Wie steifleinen, wie hausbacken, wie selbstsüchtig, wie eng, wie englisch!", heißt es da etwa. Doch bald lässt er ab vom Wüten gegen das Mutterland des Kapitalismus und kommt zum Dramatiker, den er verehrt, und würdigt dessen Stellung in seiner Zeit. Bis heute ist es ein Genuss, Heines Gedanken über Shakespeare zu lesen - auch weil ein Dichter, der über einen anderen Dichter schreibt, stets etwas über sich selbst verrät.

Vor 450 Jahren wurde Shakespeare in Stratford-upon-Avon geboren. Zum Geburtstag dokumentieren wir Auszüge aus Heines Würdigung des großen Dramatikers:

"Es ist ein Glück, daß Shakespeare eben noch zur rechten Zeit kam, daß er ein Zeitgenosse Elisabeths und Jakobs war, als freilich der Protestantismus sich bereits in der ungezügelten Denkfreiheit, aber keineswegs in der Lebensart und Gefühlsweise äußerte, und das Königtum, beleuchtet von den letzten Strahlen des untergehenden Ritterwesens, noch in aller Glorie der Poesie blühte und glänzte. Ja, der Volksglaube des Mittelalters, der Katholizismus, war erst in der Theorie zerstört; aber er lebte noch mit seinem vollen Zauber im Gemüte der Menschen, und erhielt sich noch in ihren Sitten, Gebräuchen und Anschauungen.

Erst später, Blume nach Blume, gelang es den Puritanern, die Religion der Vergangenheit gründlich zu entwurzeln, und über das ganze Land, wie eine graue Nebeldecke, jenen öden Trübsinn auszubreiten, der seitdem, entgeistet und entkräftet, zu einem lauwarmen, greinenden, dünnschläfrigen Pietismus sich verwässerte.

Wie die Religion, so hatte auch das Königtum in England zu Shakespeares Zeit noch nicht jene matte Umwandlung erlitten, die sich dort heutigen Tags unter dem Namen konstitutioneller Regierungsform, wenn auch zum Besten der europäischen Freiheit, doch keineswegs zum Heile der Kunst geltend macht. Mit dem Blute Karls des Ersten, des großen, wahren, letzten Königs, floß auch alle Poesie aus den Adern Englands; und dreimal glücklich war der Dichter, der dieses kummervolle Ereignis, das er vielleicht im Geiste ahnete, nimmermehr als Zeitgenosse erlebt hat. (...)

Im Strudel der angedeuteten kirchlichen und politischen Umwälzungen verlor sich auf lange Zeit der Namen Shakespeares, und es dauerte fast ein ganzes Jahrhundert, ehe er wieder zu Ruhm und Ehre gelangte. Seitdem aber stieg sein Ansehen von Tag zu Tag, und gleichsam eine geistige Sonne war er für jenes Land, welches der wirklichen Sonne fast während zwölf Monate im Jahre entbehrt, für jene Insel der Verdammnis, jenes Botanibay ohne südliches Klima, jenes steinkohlenqualmige, maschinenschnurrende, kirchengängerische und schlecht besoffene England! Die gütige Natur enterbt nie gänzlich ihre Geschöpfe, und indem sie den Engländern alles was schön und lieblich ist versagte, und ihnen weder Stimme zum Gesang, noch Sinne zum Genuß verliehen, und sie vielleicht nur mit ledernen Porterschläuchen, statt mit menschlichen Seelen begabt hat, erteilte sie ihnen zum Ersatz ein groß Stück bürgerlicher Freiheit, das Talent sich häuslich bequem einzurichten, und den William Shakespeare.

Ja, dieser ist die geistige Sonne, die jenes Land verherrlicht mit ihrem holdesten Lichte, mit ihren gnadenreichen Strahlen. Alles mahnt uns dort an Shakespeare, und wie verklärt erscheinen uns dadurch die gewöhnlichsten Gegenstände. Überall umrauscht uns dort der Fittig seines Genius, aus jeder bedeutenden Erscheinung grüßt uns sein klares Auge, und bei großartigen Vorfällen glauben wir ihn manchmal nicken zu sehen, leise nicken, leise und lächelnd.

Dieselbe Treue und Wahrheit, welche Shakespeare in Betreff der Geschichte beurkundet, finden wir bei ihm in Betreff der Natur. Man pflegt zu sagen, daß er der Natur den Spiegel vorhalte. Dieser Ausdruck ist tadelhaft, da er über das Verhältnis des Dichters zur Natur irre leitet. In dem Dichtergeiste spiegelt sich nicht die Natur, sondern ein Bild derselben, das dem getreuesten Spiegelbilde ähnlich, ist dem Geiste des Dichters eingeboren; er bringt gleichsam die Welt mit zur Welt, und wenn er, aus dem träumenden Kindesalter erwachend, zum Bewußtsein seiner selbst gelangt, ist ihm jeder Teil der äußern Erscheinungswelt gleich in seinem ganzen Zusammenhang begreifbar: denn er trägt ja ein Gleichbild des Ganzen in seinem Geiste, er kennt die letzten Gründe aller Phänomene, die dem gewöhnlichen Geiste rätselhaft dünken, und auf dem Wege der gewöhnlichen Forschung nur mühsam, oder auch gar nicht, begriffen werden . . .

Und wie der Mathematiker, wenn man ihm nur das kleinste Fragment eines Kreises gibt, unverzüglich den ganzen Kreis und den Mittelpunkt desselben angeben kann: so auch der Dichter, wenn seiner Anschauung nur das kleinste Bruchstück der Erscheinungswelt von außen geboten wird, offenbart sich ihm gleich der ganze universelle Zusammenhang dieses Bruchstücks; er kennt gleichsam Zirkulatur und Zentrum aller Dinge; er begreift die Dinge in ihrem weitesten Umfang und tiefsten Mittelpunkt."

(...)
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