Gastbeitrag Erst Schockstarre, jetzt wieder Training

Düsseldorf · Gastbeitrag Florian Simson ist Tenor an der Deutschen Oper am Rhein und einer der Sprecher des Sängerensembles. Jetzt freut sich der Künstler, sein Konzert- und Liedrepertoire wieder neu kennenzulernen. Trotzdem stehen über der Zukunft vieler Sänger einige Fragezeichen.

 Florian Simson als Dr. Blind und Anke Krabbe als Rosalinde in der Düsseldorfer „Fledermaus“.

Florian Simson als Dr. Blind und Anke Krabbe als Rosalinde in der Düsseldorfer „Fledermaus“.

Foto: Hans-Jörg Michel

Anfangs habe ich noch zu meinen Freunden gesagt: „Willkommen in meiner Welt“. Endlich, so schien es mir, könnten sie nachempfinden, was für die zahlenmäßig kleine Gruppe der Sängerinnen und Sänger zum Jahreskreis gehört wie Ostern und Weihnachten: die Sorge, sich eine Erkältung einzufangen, die die Stimme vorübergehend lahmlegt. Das war noch lange, bevor jedes Händewaschen von einem doppelten „Happy birthday“ begleitet wurde. Nun hat die Realität mich überholt und uns tatsächlich alle fest im Griff.

Im Zusammenhang mit allem, was die Maßnahmen der jüngsten Zeit betrifft, ist „beispiellos“ eine fast schon inflationär benutzte Vokabel. Das könnte daran liegen, dass sie zutreffend ist. Tatsächlich spült die allgemeine Fassungslosigkeit bei uns allen große Gefühle an die Oberfläche. Es sind die Emotionen, mit denen wir Sänger unsere Figuren auf der Bühne lebendig und glaubhaft machen können. Nur: Mit jedem Kostümteil, das nach der Vorstellung in der Garderobe bleibt, können wir etwas davon ablegen und dann unter dem Bühnen-Make-up unser eigenes Gesicht wiederfinden, in das wir nun ohne das Theater Tag für Tag blicken.

Die wenigsten der Kollegen, die ich in meinen Berufsjahren kennengelernt habe, erfüllen auch nur im Ansatz das Klischee vom lauten und extrovertierten Selbstdarsteller. Sie sind oft Menschen, die im Privaten das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Das ist bei mir nicht anders, aber ich bin davon überzeugt, dass in Zeiten, in denen der Vorhang geschlossen bleiben muss, die Menschen dahinter sichtbar bleiben sollten.

An der Deutschen Oper am Rhein singe ich Rollen, die nicht in der ersten Reihe stehen. Ihr Platz ist inmitten des Solistenensembles, und meine Figuren sind oft diejenigen, die in die eine oder andere Richtung in die Handlung eingreifen, um entweder der Liebe oder der Katastrophe auf die Sprünge zu helfen, was oft genug dasselbe ist. Eine Bravourarie ist dabei selten vorgesehen.

Das Repertoire der Rheinoper ist groß, und nach der ersten Schockstarre habe ich, wie viele Kollegen, begonnen, meine Partien zu pflegen, sie stimmlich und sprachlich durchzukämmen, damit man im Training bleibt. Diese aus dem Sportressort entliehene Vokabel ist dabei durchaus zutreffend. Vor allem die Anforderung an die muskuläre Koordination ist derjenigen, die an Spitzensportler gestellt wird, durchaus vergleichbar – ebenso Konzentration und Ausdauer, die uns durch lange Opernabende trägt.

Während ich auch mein Konzert- und Liedrepertoire wieder neu kennenlerne, studieren andere neue Opernpartien, die lange schon auf der Wunschliste standen. Auch bei Sängern sind die Temperamente unterschiedlich. In der Mitte eines Ensembles mit einer Bandbreite von Künstlerseelen zu stehen, bedeutet für mich auch, ein zuverlässiger Kollege auf und neben der Bühne zu sein. Als einer der drei Ensemblesprecher bin ich ein Ansprechpartner für viele und bemerke: Trotz der Verunsicherung regt sich bei uns der Mut, neue Wege zu finden, wie wir unserem Publikum nahe sein können. Gemeinsam mit der Theaterleitung der Deutschen Oper am Rhein und allen Abteilungen versuchen wir Szenarien zu entwickeln, wie die Oper auch dann lebendig bleiben kann, wenn bislang Undenkbares zur Realität wird.

Unsere Kommunikation findet dieser Tage vornehmlich digital statt. Daneben sind mir aber gerade die persönlichen Gespräche am Telefon, von denen ich momentan deutlich mehr führe als sonst, sehr wichtig. In den Stimmen meiner Kolleginnen und Kollegen aus allen Bereichen der Kunst höre ich jetzt besonders oft Fragezeichen, auch und gerade, was die berufliche Zukunft angeht. Unbestreitbar wird es ein „Davor“ und „Danach“, geben und diese Begriffe werden sich nicht nahtlos verbinden lassen. Ich wünsche mir sehr, dass es uns gelingt, aus diesen Fragezeichen Ausrufezeichen zu machen.

 Gastautor Florian Simson.

Gastautor Florian Simson.

Foto: Andreas Endermann/Rheinoper

Nahezu jeder Künstler erfährt im Laufe des Lebens, dass Krisen immer auch die Chance auf eine Erneuerung in sich tragen. Es wäre großartig, wenn wir dazu beitragen könnten, dass diese Erkenntnis ein allgemeiner Konsens werden kann.

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