Interview mit dem Chef des Jungen Schauspiels „Kindheit ist nicht nur ein Paradiesgärtlein, sondern auch die Hölle“

Düsseldorf · Stefan Fischer-Fels leitet das Junge Schauspiel in Düsseldorf. Im Interview spricht der Kindertheater-Macher übers Jungsein, Erwachsenwerden und die Angst vorm Stillstand im Alter.

 Bloß nicht stehen bleiben: Stefan Fischer-Fels vor einem Bühnenbild des Jungen Schauspiels Düsseldorf.

Bloß nicht stehen bleiben: Stefan Fischer-Fels vor einem Bühnenbild des Jungen Schauspiels Düsseldorf.

Foto: Bretz, Andreas (abr)

Herr Fischer-Fels, wie jung fühlen Sie sich?

Stefan Fischer-Fels Auf jeden Fall jünger, als ich in Jahren bin. Ich erstaune, dass ich schon 54 bin. Ich habe mich auch schon mit 40 gewundert. Wahrscheinlich fühle ich mich also jünger als 40.

Gibt es eine Altersgruppe, mit der Sie sich besonders wohl fühlen?

Fischer-Fels Ein Grund, warum ich Kindertheater für mich entdeckt habe, war, dass ich zu Kindern immer einen guten Draht hatte.

Wann ist Ihnen das aufgefallen?

Fischer-Fels Das war, als ich Schauspiel studiert habe. Ich habe in einem Kollektiv gearbeitet, wo auch viele Kinder waren. Sobald Fischer-Fels den Raum betrat, hatten die Kinder Spaß. Und ich hatte auch Spaß. Ich habe mit denen Fußball oder Theater gespielt und Unsinn gemacht und sie sehr ernst genommen. Wir konnten miteinander reden und es gab keine Hierarchien, eher so einen Gleichklang der Seelen. Ich war selbst überrascht. Das ging so weit, dass ich Erziehungswissenschaften studiert habe, um herauszufinden, was da los ist.

Und was hat Sie am Theater interessiert?

Fischer-Fels Ich wollte etwas Sinnvolles für die Menschen machen. Mich interessiert der Adressat mehr als der Absender. Die Aufgewecktheit, die Neugierde, die Offenheit von Kindern. Ich wollte Kunst für Kinder machen. Das ist dann – etwas überraschend – meine Lebensaufgabe geworden. Eigentlich wollte ich Fußballtrainer werden.

Sind Kindheit und Jugend eine schwere oder eine einfache Zeit im Leben?

Fischer-Fels Beides. Ich habe diese Zeit sehr unbeschwert erlebt. Aber Kinder durchleben auch viele Dramen.

Wie waren Sie als Kind?

Fischer-Fels Ich bin in Berlin groß geworden, meine Eltern hatten ein Haus mit Garten. Meine Mutter war Apothekerin und mein Vater Opernsänger. Ich hatte einen Bruder und eine kleine Schwester.

Was tun Sie denn, um auch mit 54 noch zu verstehen, was Kinder und Jugendliche brauchen?

Fischer-Fels Ich habe drei Kinder – 28, 25 und 11 Jahre alt. Die schaue ich mir an. Andererseits erinnere ich mich sehr gerne und sehr viel an meine Kindheit. Und ich habe täglich 300 Kinder bei mir im Theater. Mit denen spreche ich viel.

Was haben Sie selbst in Ihrer Kindheit für Dramen erlebt?

Fischer-Fels Ich habe erst später verstanden, wie viel meine Eltern mir nicht erzählt haben. Und ich hätte mir gewünscht, dass sie mir von ihren Dramen, ihren Fragen, ihren Streits berichten. Ich dachte als Kind, meine Familie sei total harmonisch – um dann hinterher mitzukriegen, dass hinter den Kulissen sehr viel gekämpft wurde. Da fühlte ich mich dann nicht ernst genommen.

Meist fühlt man solche Dinge ja als Kind, hat aber keine Sprache dafür.

Fischer-Fels Ja. Aber man könnte dann vor Wut die Wand eintreten. Habe ich mal gemacht als Kind. Ich galt als jähzornig, impulsiv. Ich war sehr kräftig. Ich konnte mich auch gut beherrschen und konzentrieren. Wenn es aber aus mir herausbrach, weil mein Bruder mich bis zur Weißglut gebracht hatte …

Tat er das?

Fischer-Fels Mein Bruder war genau ein Jahr älter als ich. Ich konnte fast mit ihm mithalten, aber eben nur fast. Meine ganze Kindheit habe ich mich geprügelt, wir haben immer konkurriert, und als er ins Studium ging, habe ich einen Moment gedacht: Ich kann nicht mehr leben, weil ein Teil von mir weggeht. So eng waren wir.

Kinder müssen solche Dramen erleben und den Prozess durchlaufen, um sie irgendwann zu verstehen. Das ist anstrengend.

Fischer-Fels Ja, das ist es. Das ist richtig Arbeit. Deshalb: Kindheit ist nicht nur ein Paradiesgärtlein, sondern auch die Hölle. Und die Kunst muss Himmel und Hölle zum Thema machen. Und Hilfen geben, auch die Höllen zu überleben. Kinder haben noch keine Schutzschicht. Die erleben es pur und brutal, wenn sie abgelehnt oder gemobbt werden. Gleichzeitig ist das Kindertheater ein Theater für alle Menschen – denn wir können uns ja alle daran erinnern, wie das ist. Das ist mein Wunsch und meine These: Dass Erwachsene selbstverständlich auch ins Kindertheater gehen können. In anderen Ländern ist das auch schon so. Hier dagegen sagen mir Leute: Ich war noch nie bei Ihnen, denn ich habe keine Kinder. Ich sage dann immer: Sie dürfen trotzdem kommen.

Manchmal ist Theater ja auch ganz schwer auszuhalten für Kinder und Jugendliche – es ist einfach zu echt.

Fischer-Fels Wir hatten ein wunderbares Stück „Die Mitte der Welt“, wo es um die Liebe zwischen zwei Jungs geht, die sich auch auf der Bühne küssen. Sowas sieht man ja in Filmen oder Fernsehen nicht so selten. Aber ein offener Kuss von zwei Menschen auf der Bühne hat nicht nur einen dubiosen Elternverein provoziert, sondern auch extreme Reaktionen im Publikum hervorgerufen. Der Kuss war lang und genüsslich. Viele Tabus und Fragen dieser Gesellschaft explodierten in diesem Moment. Klar: Das Publikum muss damit umgehen. Wir bearbeiten die Themen in vielen Nachgesprächen. Was fühle ich? Was fühlen die anderen? Wie drücke ich aus, was ich fühle? Oder bin ich lieber ganz still? Was ich so liebe am Theater, ist gerade das: Man sieht immer auch die anderen, wie sie reagieren.

Mit Scham gehen Kinder anders um als Erwachsene, oder? Kinder bauen weniger Distanz zum Geschehen auf.

Fischer-Fels Scham und Beschämung ist ein komplexes Thema, gerade für Kinder bei der Ausbildung einer eigenen Identität. Auch Sexualität ist für Jugendliche heute stark medial geprägt und sehr heikel. Wenn jemand einen nicht perfekten Körper auf der Bühne zeigt, ist das für einige Kinder und Jugendliche ein Grund, das eklig oder schrecklich zu finden. Uns ist es wichtig, dass wir auf der Bühne nicht einem falschen Schönheitsideal das Wort reden.

Sie haben eine riesige Verantwortung!

Fischer-Fels Was sind eine Stunde Theater gegen tausend Stunden Fernsehen oder Handy? Dadurch wächst die Verantwortung aber noch. Kinder nehmen das, was auf der Bühne passiert, wirklich ernst. Mir ist bewusst, dass Kinder das lebenslang prägen kann.

Was war Ihre erste Erfahrung mit Theater?

Fischer-Fels Dass ich in die Oper musste und dort meinen Vater auf der Bühne sah. Als ich zehn war, hatte ich zehn Mal die „Zauberflöte“ gesehen und konnte sie auswendig mitsingen. Ich war überwältigt von der Mächtigkeit der Oper. Aber auch komplett überfordert, zum Beispiel als Zehnjähriger in „La Bohème“.

Wie drückt sich das bei Kindern aus?

Fischer-Fels Müdigkeit. Oder Zappeligkeit. Bei mir war es so, dass ich eingeschlafen bin oder gesagt habe: Ich muss hier raus. Vielleicht bin ich auch beim Kindertheater gelandet, weil das ein Gegenentwurf zur opulenten Oper ist. Ich dachte: Es muss auch andere, direktere Wege geben, Geschichten zu erzählen.

Warum soll man das überhaupt im Theater tun?

Fischer-Fels Menschen hören sich unfassbar gern Geschichten an. Ich habe mal gelesen, dass der Sinn deines Lebens davon abhängt, ob es dir gelingt, aus den biographischen Ereignissen eine zusammenhängende Erzählung zu machen. Das ist eine sehr komplizierte Aufgabe, an der man auch scheitern kann. Ich möchte Hilfen geben, unsere Existenz in dieser Gesellschaft zu verstehen. Deswegen erzähle ich Geschichten, die etwas mit Wirklichkeit und Gesellschaft zu tun hat. Ich verstehe meine Arbeit auch politisch.

Politisch und pädagogisch?

Fischer-Fels Nicht im Sinne von: Pass dich an die Verhältnisse an. Sondern: Werde, der du bist! Versuche zu verstehen, was es heißt, ein Mensch zu sein und menschlich zu handeln.

Gibt dieses pädagogische Kinder- und Jugendtheater noch, das mit erhobenem Zeigefinger erklären will?

Fischer-Fels Eigentlich in unseren Diskursen überhaupt nicht mehr. Das Theater mag früher versucht haben, Kinder zu bestimmten Verhaltensweisen anzuhalten. Das moderne Kindertheater stellt Fragen. Es ermutigt, sich der komplexen Wirklichkeit zu stellen. „Putz dir die Zähne!“ oder „Finde einen Freund!“ – so simpel ist die Realität nicht. Das Kindertheater ist eine ernstzunehmende Sparte des Theaters geworden. Man kann auch ästhetisch keine Unterschiede mehr zum Erwachsenentheater sehen. Unsere acht Schauspieler sind auf die gleichen Schauspielschulen gegangen wie die Schauspieler am Großen Haus – sie haben einfach nur Lust, Theater auch für junge Leute zu machen.

Wann sind Sie erwachsen geworden?

Fischer-Fels Als ich Vater wurde. Da war ich noch sehr jung – 26 Jahre alt. Ich fühlte mich noch nicht reif und habe schlagartig gelernt, erwachsen zu sein.

Was heißt das?

Fischer-Fels Als Kind und Jugendlicher konnte ich immer überall schlafen. Seit dem Tag, an dem mein erstes Kind geboren wurde, ist mein Schlaf ruheloser geworden. Ich war auch extrem daran interessiert, meine eigene Selbstverwirklichung voranzutreiben. Meinen eigenen Genuss! Meine Kinder haben das nicht zugelassen. Die wollten versorgt werden. Die wollten, dass ich um fünf Uhr aufstehe und ihnen die Milch warm mache oder dass ich spazieren gehe oder wollten nicht einschlafen, wenn ich abends todmüde war. Oder sie waren krank! Das alles hat mir gezeigt: Es gibt auf der Welt etwas anderes als dich selbst.

Der Auslöser war ein externer, aber der Prozess ein innerer.

Fischer-Fels Ja, das war auch konflikthaft! Ich fand das extrem schwer. Es war wie eine Operation am offenen Herzen. Erwachsen werden hieß in meinem Fall: in den Konflikt kommen zwischen dem Bedürfnis, mich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, und den Anforderungen der Welt und der Menschen, die ich liebe und die mich brauchen. Diesen Konflikt habe ich bis heute. Ich kann ihn heute aber besser managen.

Erwachsen werden passiert also nicht mit dem 18. Geburtstag.

Fischer-Fels Nein. Ich glaube auch, das passiert immer später. Und hört nie auf.

Naja – denken Sie mal an den 18-jährigen Politiker Christian Lindner, der mit einem Aktenkoffer über den Schulhof läuft.

Fischer-Fels Ist das reif? Ist das erwachsen? Nein. Das ist ein Zerrbild. Der 18-jährige Lindner spielt erwachsen. Nein, mit Erwachsen sein meine ich eine innere Reife. Ein bisschen klug zu handeln und zu überlegen, was sind die Folgen deines Handelns für die Umwelt und dein Umfeld. .

Das heißt: Der 25-jährige Stefan Fischer-Fels wäre auf jeden Fall sehr gut in einer Vorstellung des Kinder- und Jugendtheaters aufgehoben gewesen, denn er war ja noch nicht erwachsen.

Fischer-Fels Ja, und tatsächlich habe ich genau in dieser Phase – das fällt mir erst jetzt auf – meine erste Begegnung mit Kindertheater gehabt. Ich war ja auf einer Waldorfschule – ein Ort ein wenig fernab der Realität. Die haben mich nicht ins Grips Theater gebracht, denn das war ja ein Ort des sozial existierenden Realismus. Als Student bin ich dann zufällig in eine Vorstellung gegangen und dachte: So lebendig kann Theater sein! Was ist das denn für ein interessantes Berufsfeld? Das war mir gar nicht klar. Ich bin so oft im Erwachsenen-Theater eingeschlafen bei unendlich langweiligen Klassiker-Inszenierungen und plötzlich war da ein Dialog zwischen Schauspielern und Publikum, sinnlich, humorvoll, auch mal derb. Ich dachte: Det isses!

Wie haben Sie die Studienzeit in Stuttgart in Erinnerung?

Fischer-Fels Westberlin habe ich in Erinnerung als ein Biotop vieler freier, ziemlich verrückter Menschen – und drumherum war eine Mauer. Als ich 1986 nach Stuttgart kam, war ich völlig überrascht, dass mein Kofferraum nicht mehr inspiziert wurde, wenn ich die Stadt verließ. Intellektuell habe ich das natürlich schon begriffen, aber physisch hatte ich das Gefühl, ich kann immer weiter fahren, ohne Ende, und bin irgendwann in Italien. Freiheit! Das war für einen Westberliner ein echtes Erlebnis. Blöderweise habe ich den Mauerfall in Stuttgart erlebt, wo das keinen Menschen interessiert hat.

Und dann also Kindertheater. Was wäre, wenn Sie darauf morgen keine Lust mehr hätten?

Fischer-Fels Ich habe keinen Plan B. Ich vergleiche das gerne mit dem Beruf des Arztes: Man ist ausgebildet als Kinderarzt, nicht als Chirurg. Ich kann nicht so einfach meinen Job wechseln – ich bin Fachmann für Kinder- und Jugendtheater. Das hat etwas mit Literatur zu tun, mit Ästhetik, mit Kollegen, mit Geschichte, mit Diskursen – in denen bin ich zuhause, was das Kinder- und Jugendtheater angeht. Das ist mein Spezialgebiet. Das kann auch gern bis zu meinem Lebensende so bleiben. Ich werde manchmal gefragt, ob ich irgendwann zu alt sein könnte fürs Jugendtheater, aber fachlich gesehen spielt Alter keine Rolle, und wenn ich den Draht zu Kindern verliere, werde ich das schon rechtzeitig merken …

Muss man als Kindertheatermacher unter Kollegen um Anerkennung ringen?

Fischer-Fels Ja, immer noch, aber nicht mehr so krass wie vor zehn Jahren. Das hat sich stark gebessert. Aber es gibt Schauspielschulen, die warnen ihre Schüler davor, ins Kindertheater zu gehen, mit der Begründung, dann würden sie auf dem Abstellgleis sitzen. Dabei ist Kinder- und Jugendtheater ein wachsender Markt in Deutschland. Wir bieten immer mehr Arbeitsplätze. Und viele Schauspieler gehen nach ein paar Jahren Kindertheater ans Erwachsenentheater. Hier lernt man wunderbar, dass der Grund, warum wir Theater machen, das Publikum ist.

Wie erleben Sie das Älterwerden?

Fischer-Fels Man muss die Balance halten zwischen der abnehmenden Kraft und der zunehmenden Erfahrung. Wie schafft man es, dass man nicht stehen bleibt? Stelle ich mich neuen Herausforderungen oder vermeide ich sie?

Besteht bei jemandem mit Ihrem Beruf denn wirklich diese Gefahr?

Fischer-Fels Sagen wir so: Als ich das zweite Mal nach Düsseldorf kam, hatte ich das Bedürfnis, mich ein wenig neu zu erfinden. Ich wollte nicht anfangen, mich selbst zu kopieren.

Wie erfindet man sich denn neu, ohne seine Authentizität zu verlieren?

Fischer-Fels Ich arbeite mich an Fragen ab. Ich lese wie verrückt Zeitung. Ich will begreifen, was in der Stadt, im Land, in der Welt passiert. Wohin sich die Gesellschaft bewegt. Ich suche Themen, an denen ich mich entzünden kann. Ich will mit meinem Theater die neue, diverse Stadtgesellschaft besser abbilden.

Aber die Werkzeuge, mit denen Sie an diese Themen gehen, bleiben dieselben?

Fischer-Fels Ja. Wobei: Ich lerne immer noch wahnsinnig viel. Zum Beispiel von Schauspielhaus-Intendant Wilfried Schulz. Das macht mir großen Spaß.

Was genau lernen Sie?

Fischer-Fels Wie man einen Spielplan komponiert. Wie man Konflikte moderiert. Integrität. Diplomatie. Analytische Schärfe. Die Klugheit, mit Menschen Theater zu machen ...

Dieser Prozess des Stillstehens, den Sie fürchten – wie funktioniert der? Ist das eine Kapitulation?

Fischer-Fels Stillstehen heißt zum Beispiel, dass ich eine Erfolgsnummer aus dem mache, was ich tue. Dass ich etwas immer und immer wieder kopiere, weil ich weiß, dass es funktioniert. Darin steckt auch Angst, sich Veränderungen zu stellen. Aber Theater ist Zeitgenossenschaft und Innovation und Veränderung und Suche. Das will ich nicht vergessen, wenn ich älter werde.

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