Düsseldorf MTV-Moderator schreibt über Weltstars

Düsseldorf · Steve Blame hat in seiner Zeit als Musikjournalist die größten Popstars der Welt interviewt. Mit seinem neuen Buch "Emotionale Vaseline" will er beweisen, dass die seelischen Wunden der Künstler der Treibstoff für ihre Erfolge sind.

 Steve Blame zitiert in seinem neuen Buch den Musikproduzenten Quincy Jones: „Musik ist für den Künstler die Befreiung aus seinem emotionalen Gefängnis.“

Steve Blame zitiert in seinem neuen Buch den Musikproduzenten Quincy Jones: „Musik ist für den Künstler die Befreiung aus seinem emotionalen Gefängnis.“

Foto: Marcel Kamps

Es war eine Nacht Anfang der 70er Jahre, Steve Blame stand am Fenster seines Kinderzimmers. Kurz zuvor war Neil Armstrong als erster Mensch auf dem Mond herumspaziert, Blame hatte sich daraufhin ein Fernrohr gewünscht.

Während sich ein paar Zimmer weiter seine Eltern laut stritten, suchte der Junge nach einer anderen Welt. Und er hörte dabei David Bowie. Mit ihm teilte Blame das Gefühl, ein Alien im All, ein cooler Außenseiter sein zu wollen. Mit "The Rise And Fall Of Ziggy Stardust And The Spiders From Mars" im Ohr sind Blames tiefste Wunden entstanden. Gerade deshalb liebt er Bowie bis heute.

Diese seelischen Verletzungen beschreibt der ehemalige MTV-Moderator in seinem neuen Buch als die "emotionale Vaseline", die Popstars als Antriebsfeder zu ihren weltweiten Erfolgen dient. Blame hat sie sich alle noch einmal vorgenommen, von Tina Turner über Stevie Wonder, von Madonna bis Janet Jackson und Elton John. Und ist dabei auf eine einfache Formel gestoßen: "Das Unperfekte führt zum Streben nach Perfektionismus."

Die Quelle der Kreativität seiner Idole meint Blame dort ausfindig gemacht zu haben, wo kurz einmal alles auf der Kippe stand. Es sei immer ein Moment der Verlorenheit, des Ausgestoßenseins, der später den Antrieb gebe. "Kunst ist Kompensation. Der Künstler holt sich vom Leben zurück, was er einst nicht bekommen hat."

Das könne die verweigerte Liebe der Eltern sein, eine Sonderstellung aufgrund von Hautfarbe, Behinderung oder sozialer Klasse. Der Künstler hat Ablehnung erfahren, die ihn bis ins Mark erschüttert hat. Deshalb will er perfekt sein, um geliebt zu werden. "Was natürlich nicht bedeutet", betont Blame und muss sofort laut lachen, "dass im Umkehrschluss jeder Mensch mit kaputter Kindheit dazu berufen ist, ein Ausnahmekünstler zu werden. Manche werden auch einfach depressiv. Oder Mörder."

Der Auslöser für Steve Blames These von der emotionalen Vaseline, dem Treibstoff, der durch Verletzung entsteht, war ein Interview mit Tina Turner im Jahr 1995. Blame traf sie für den damals neuen Musiksender Viva Zwei, den er als Programmdirektor mit aufgebaut hatte. "Sie ist einer dieser Stars, die mit ihrer Aura sofort den ganzen Raum erfüllen." Und dann habe die Frau, die mit Al Greens "What's Love Got To Do With It" zum Megastar geworden war, unverblümt von ihren dunklen Momenten erzählt. Schon in ihrer Autobiografie "I, Tina" hatte Turner 1986 geschrieben, dass sie bis zu diesem Zeitpunkt — mit immerhin Mitte vierzig — noch nie echte Liebe erfahren habe. Doch wie kann jemand Welthits über Liebe singen, der auf diesem Gebiet ein Leben lang gescheitert ist? "Überhaupt nur deshalb", sagt Steve Blame. "Weil sie diese Leerstelle in ihnen kompensiert hat. Tina spiegelt unsere Wunden wider, vielleicht sogar ohne dass wir es bewusst begreifen. Wir können ihre Sehnsucht nachfühlen, weil wir merken, dass sie echt ist."

Die Verbundenheit zwischen Fan und Künstler zeige sich deshalb, laut Blame, häufig in den gemeinsamen Verletzungen. Die müssen nicht immer eine identische Geschichte erzählen, verbinden sich aber häufig in einem Gefühl der Ausgestoßenheit.

Das Außenseitertum wird zum Verbindungsglied. Lady Gaga nennt ihre Fans "kleine Monster", Madonna setzte sich als einer der ersten Künstler für die Gleichberechtigung homosexueller Paare ein, und selbst der heutige Multi-Millionär Bruce Springsteen gilt immer noch als Sinnbild des amerikanischen "working man". Es sei nicht ausgeschlossen, dass sich die Stars mit der Musik therapieren und ihre Wunden überwinden. "Aber sie müssen es bewusst tun und immer noch auf das Gefühl zurückgreifen können", sagt Blame.

Wie schon in seiner Autobiographie "Getting Lost Is Part of the Journey" (2010) wird Blame in "Emotionale Vaseline" sehr persönlich, erzählt von dem schmerzenden Verhältnis zu seinem Vater und der Beziehung zu seinem letzten Freund. "Ich bin meinen Ur-Wunden auf den Grund gegangen und habe sie freigelegt. Ich möchte behaupten: Ich bin geheilt", sagt Blame.

Als nächste Projekte stehen deshalb ein Roman und ein Sachbuch über Interviews an. Wichtig sei, auf den Ideen nicht nur herumzudenken, sondern sie abzuschließen, ein Produkt in die Welt zu stellen — und dann weiterzumachen. Das reinige den Kopf, häufig auch das Herz.

Wenn einem Kind Leid widerfahre, heißt es in "Emotionale Vaseline", entwickele es ein sogenanntes Beschützer-Ich, eine innere Stimme, die es vor weiteren Verletzungen bewahrt. Für einen unkreativen Menschen sei diese Stimme schlicht ein Schutzschild gegen die Außenwelt. "Ein kreativer Mensch macht aus dem Schutzschild jedoch ein ganzes Schloss, in dem ihm eine Fee zur Beruhigung Märchen vorliest." Bei den echten Stars dürfen wir diesen Geschichten lauschen.

(RP/ila)
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