Interview "Jeder hat das Recht auf Ausdruck"

Düsseldorf · Bertram Müller, künstlerischer Leiter des Tanzhauses NRW, vollendet morgen sein 65. Lebenjahr. Ein Gespräch über Beuys, die Aufgabe jedes Menschen, seinen schöpferischen Willen zu entwickeln und die Zukunft eines Hauses, in dem jeder tanzen und Tanz betrachten kann.

Zu runden Geburtstagen wird man ja meist genötigt, auf sein Leben zu blicken. Entdecken Sie da einen Impuls, der Sie dazu gebracht hat, das Tanzhaus zu gründen?

Müller Der Impuls war die Neugier auf die Vielfalt an Kulturen, die ich nicht kannte. Dazu herrschte in den 70er Jahren ein Klima, in dem man Ideen in Projekte verwandelt hat, statt durch die Institutionen zu marschieren. Mein Leben lang hat mich eigentlich immer beschäftigt, wie man sich selbst, aber auch andere Menschen zu einem kreativen, würdigen Leben führen kann. Dazu ist die Kunst das wichtigste Mittel, weil sie dazu anregt, die eigene Person zu entfalten.

Würden Sie mit Beuys sagen, dass jeder das Potenzial hat, ein kreatives Leben zu führen?

Müller Selbstverständlich! Nicht jeder füllt dieses Potenzial mit Musik, Tanz oder bildender Kunst. Ghandi etwa war einer der größten Künstler, er hat das auch selbst so gesehen, seine Kreativität hat er aber durch einen Sitzstreik realisiert und ist politisch aktiv geworden. Jede Frau, die sich schön macht, vollzieht Kunst am eigenen Leib. Man kann nur befriedigend leben, wenn man seine Individualität ausdrückt.

Was benötigt man dazu?

Müller Dazu braucht man Mut und die Möglichkeit, diese Lebensaufgabe überhaupt zu erkennen. Es gibt ja leider auch chronisch blockierte Menschen, weil ihre Umwelt, ihre Eltern oder die Schule ihren schöpferischen Willen nachhaltig frustrierten, anstatt sie dazu anzuhalten, diesen auf ihre eigene Weise zum Ausdruck zu bringen.

Ist das Tanzhaus kreativer Ausdruck Ihres Lebens?

Müller Das Tanzhaus hat sich entwickelt. Daran haben viele Menschen mitgearbeitet, und es war vielleicht zum Teil auch Zufall, dass ich hier gelandet bin. Ich war bestimmt offen für diesen Zufall, aber Bereitschaft und Gelegenheit mussten zusammentreffen.

Worin bestand die Gelegenheit?

Müller Es gab in Düsseldorf eine Off-Szene, die mich angezogen hat, als ich in den 70er Jahren in die Stadt kam. Ich war gesättigt von der nachkriegsbürgerlichen Kultur und neugierig auf neue Formen der Ausdruckskunst. So haben wir begonnen – mit Weltmusik, Tanz – offen für die kulturellen Schätze der Welt. Wir waren der Form gewordene Satz von Beuys, wonach jeder Mensch ein Künstler ist. Das ist ja kein banaler Satz, sondern ein politischer, weil er das Recht auf Kreativität für jeden Menschen verteidigt. Darum bemühen wir uns im Tanzhaus mit wöchentlich 230 unterschiedlichen Kursen um ein möglichst breites Angebot. Wir wollen der Tendenz zum Expertentum in unserer Gesellschaft entgegenwirken, weil sie den einzelnen entmündigt. Wir wollen möglichst vielen Menschen Gelegenheit geben, Zugang zu sich selbst zu finden – ob nun im Flamenco-Kurs, beim Hip-Hop oder als Zuschauer in unserem Theater.

Ist es denn in zunehmend individualisierten Zeiten nötig, Menschen zum Ausdruck ihres Selbst zu animieren?

Müller Tatsächlich haben junge Menschen heute einen erstaunlich starken Willen – heute ist wohl eher das Miteinander die Herausforderung. Aber gerade der Tanz lädt ja ein, gemeinsam kreativ zu sein und Teil eines sozialen Prozesses zu werden. Choreografen haben meist kein aufgeblasenes Künstler-Ego. Sie wollen mit anderen Menschen gemeinsam etwas schaffen.

Sie sind Theologe, Psychotherapeut, Tanzhaus-Erfinder – wenn Sie auf Ihren Werdegang zurückblicken, was macht Sie dann zufrieden?

Müller Wenn ich beim Teilnehmerfest Jugendliche erlebe, die entdecken, dass sie Spaß haben am Tanz, obwohl sie das vorher vielleicht gar nicht dachten, das macht mich zufrieden. Dazu ist das Tanzhaus natürlich auch der Versuch, der Tanzkunst mehr Akzeptanz zu verschaffen. Darum ist es ein Segen, dass wir dieses Haus an der Erkrather Straße bekommen haben. Hier gibt es alles unter einem Dach: Tanzkurse und das Theater, in dem wir die Arbeit freier Compagnien fördern. Wir wollen, dass hier Gespräche über Tanz angeregt werden. Denn nur wenn wir über Kunst reden, bleibt sie im Gedächtnis, wirkt nachhaltig und berührt unsere Seele.

Hat Ihre Ausbildung zum Psychotherapeuten Ihre Arbeit im Tanzhaus beeinflusst?

Müller Ich habe beide Funktionen immer stark getrennt. Wir machen im Tanzhaus auch keine Tanztherapie. Aber es gibt schon Parallelen: Die Therapie versucht Menschen Wege zu eröffnen, damit sie Kräfte finden, um aus der Stagnation einer Depression herauszufinden. Eine gute Therapie zeigt nicht die Hölle, sondern die Potenziale, den Himmel eines Menschen. Sie hilft, den eigenen schöpferischen Willen zu mobilisieren - das verbindet sie mit der Choreografie. Darum steht im Tanzhaus auch nicht allein die Tanztechnik im Vordergrund, sondern der Persönlichkeitsausdruck.

Was wünschen Sie sich zum Geburtstag für die Zukunft des Tanzhauses?

Müller Es wäre gut, wenn sich das Tanzhaus als feste Institution neben Schauspielhaus und den Museen stabilisieren würde. Darum wäre ich beruhigt, wenn die noch ausstehenden Bauvorhaben hier am Haus endlich realisiert würden. Unser Theater wartet noch auf eine Hinterbühne, auch müssten die Räume isoliert werden. Wer hier Kurse macht, weiß, wie heiß es im Sommer wird.

Und für die eigene Zukunft?

Müller Ich werde die Tanzhaus-Leitung in zwei Jahren abgeben, eine Kommission wird sicher schnell einen guten Nachfolger finden. Hier arbeitet ein hervorragendes Team, das dem künftigen Chef den Freiraum schaffen wird, seine Rolle zu finden. Ich habe dann Zeit, abends auch mal andere Kunst als Tanz zu genießen und werde unter irgendeinem Baum auch den ein oder anderen Text zu Papier bringen.

(RP)
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