Jérôme Ferrari "Ich wollte zeigen, wie eine Welt zerbricht"

Düsseldorf · In "Predigt auf den Untergang Roms" projiziert der preisgekrönte Autor Jérôme Ferrari die Sorgen der Menschheit auf eine korsische Dorfkneipe.

Kriegstraumata, Augustinus' philosophische Betrachtungen und das muntere Treiben in einer korsischen Dorfkneipe — das alles hat Jérôme Ferrari zu einer multiperspektivischen Erzählung verkettet und in Bandwurmsätze gebannt, die doch so süffig sind wie ein guter Bordeaux-Wein. Nicht umsonst hat der 45-jährige Franzose für seinen Roman "Predigt auf den Untergang Roms" die Literaturauszeichnung "Prix Goncourt" erhalten. Ein Gespräch über untergehende Welten, ein Missverständnis und die Entdeckung Deutschlands.

Sie haben in Paris gelebt, auf Korsika, in Algerien. Zurzeit unterrichten Sie Philosophie an einem französischen Gymnasium in Abu Dhabi . Wandern Sie gern von einer Welt in die andere?

Ferrari Ja, das mag ich sehr, und ich habe das Glück, dass mein Beruf als Lehrer mir die Möglichkeiten dazu bietet. In einem fremden Land zu leben, ist etwas völlig anderes, als es als Tourist zu entdecken.

Was ist überhaupt eine Welt?

Ferrari In dem Sinne, der mich interessiert, ist es ein grundlegendes metaphysisches Konzept. Eine Welt ist also der Horizont des Sinns, der einzelne Teile zu einem kohärenten Ganzen vereinigt.

Warum muss die Welt in der kleinen Bar auf Korsika in "Predigt auf den Untergang Roms" zerbrechen?

ferrari Weil es eine sehr kleine Welt ist. Der ganze Roman dreht sich um den Satz von Augustinus: "Die Welt ist wie ein Mensch, sie wird geboren, sie wird groß und sie stirbt." Mir ging es darum, diesen Mechanismus zu beschreiben, ohne jegliche psychologische Betrachtung.

Ein wichtiges Thema im Roman ist die Flüchtigkeit von Sinn. Kleine Individuen angesichts der zusammenstürzenden Welten. Ein Thema des 20. Jahrhunderts?

Ferrari Absolut. Aber es hat auch andere Zeiten gegeben, in denen es eine Sinnkrise gab. Eine Krise des Sinns, das ist ja letztlich der Zusammenbruch einer Welt. Aber das Thema findet sich auch bei Dostojewski. Vielleicht erfreuen wir uns ja eines alten Stücks in neuen Kleidern.

Die Darstellung in Ihrem Roman ist kühl. Der Zynismus unserer Zeit?

Ferrari Ich hoffe nicht, ich hasse Zynismus, Ironie und alles, was man mit dem Begriff "esprit" in Frankreich verbindet. Dieser beinhaltet eine gelassene Überlegenheit und ein gutes Gewissen, das finde ich abstoßend.

Ist es ein typisch französischer Roman?

Ferrari Ich behandle französische Konflikte wie den Algerienkrieg, aber der Konflikt selbst ist nicht französisch, sondern zutiefst menschlich. Ich nehme mich selbst nicht als typisch französisch wahr, weil ich immer in Frankreichs Randgebieten gelebt und gearbeitet habe.

Europa steht derzeit — vor allem finanziell betrachtet — vor gigantischen Problemen. Ist das nicht auch eine Welt, die gerade zusammenbricht?

ferrari Ich glaube nicht, dass wir in der Lage sind, eine Diagnose über die Welt, in der wir leben, zu stellen. Europa nimmt sich selbst sicherlich als alternde Welt wahr. Ich habe manchmal den Eindruck, dass der Erfolg meines Romans auf einem Missverständnis beruht: Vielleicht wird er als Geschichte über das Ende der Zivilisation gelesen, dabei ist das gar nicht mein Thema.

Ihr Roman ist kompliziert aufgebaut. Gingen dem Schreiben lange "Konstruktionsarbeiten" voran?

ferrari Ja, es hat drei Jahre gedauert, bis ich den Aufbau hatte, und bevor diese Arbeit nicht abgeschlossen ist, kann ich nicht schreiben. Aber alle meine Romane beruhen auf kompakten Konstruktionen, weil sie immer mehrere Erzählstimmen enthalten.

In Ihrem Roman haben Sie die Figur des André Degorce sozusagen zweitverwertet. Warum?

ferrari Degorce ist die Hauptperson in "Und meine Seele ließ ich zurück". Als ich das schrieb, dachte ich schon über die "Predigt" nach und wusste, dass er vom Vorder- in den Hintergrund rücken würde. In der "Predigt auf den Untergang Roms" wird er als "Capitaine" bewundert, als Hauptfigur in dem vorherigen Roman ist er ein durch den Krieg zerstörter, degenerierter Mensch.

Sie haben mal gesagt, Sie seien vom Krieg besessen . . .

ferrari Ich glaube, die Erklärung liegt in meiner Familiengeschichten. Wie in vielen korsischen Familien haben meine Großeltern und meine Onkel in den Kolonialtruppen Karriere gemacht. Ich selbst gehöre zu einer, vielleicht sogar zur ersten Generation, die das Glück hat, an keinem Krieg teilgenommen zu haben. Aber ich glaube, eine tiefgreifende Kenntnis vom Menschen ist nicht möglich, ohne dass man sich bewusst macht, wozu der Mensch im Krieg fähig ist.

Arbeiten Sie an einem neuen Roman?

ferrari Ich habe noch nicht mit dem Schreiben begonnen, aber es wird ein Roman über den Physiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg. Deutschland wird mich also in den kommenden Monaten sehr beschäftigen.

Waren Sie schon mal in Düsseldorf?

ferrari Nein, ich werde jetzt Deutschland entdecken. Im vergangenen Jahr war ich zwei Tage in Berlin. Das war alles. Es ist seltsam und ein bisschen beschämend, aber ich kenne weder das Land noch die Sprache, die meine intellektuelle Erziehung so geprägt haben. Aber ich freue mich auf diese Entdeckung.

(RP/EW)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort