Ruth Klüger Gedichte gegen das Grauen im KZ

Düsseldorf · Die Erzählerin und Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger hat als junges Mädchen im Konzentrationslager von Auschwitz Verse aufgesagt, um das Leid zu ertragen. Morgen trägt die 82-Jährige eigene Verse im Palais Wittgenstein vor.

Gedichte haben Ruth Klüger (82) geholfen, das Konzentrationslager zu überleben. Es waren vor allem Verse von Goethe, Schiller und Heine. Doch dazu gehörten auch eigene, die sie als junges Mädchen in Auschwitz verfasste. Die Literaturwissenschaftlerin und Erzählerin - berühmt geworden mit ihrer Autobiografie "weiter leben" - schreibt bis heute Gedichte, veröffentlicht diese aber nur selten. Mit ihrem Gedichtband aus den vergangenen Jahr geht sie ein Wagnis ein: Sie interpretiert und kommentiert ihre eigenen Verse. Dieses Buch, erschienen unter dem Titel "Zerreißproben", stellt sie Morgen bei den Düsseldorfer Literaturtagen um 11 Uhr im Palais Wittgenstein vor.

Wie problematisch ist es, als Lyrikerin die eigenen Gedichte zu deuten oder zu kommentieren?

Klüger Es ist ungewöhnlich und man setzt sich damit dem Vorwurf aus, der Leserin eine Reaktion auf das Gedicht diktieren zu wollen. Ich bin mir dieses Einwands und dieser Kritik bewusst und rechtfertige mich mit der Ratlosigkeit, die viele Leser beim Lesen von Gedichten empfinden. Gebundene Sprache ist kompakt und verkürzt und stellt oft Rätsel, die die Autorin manchmal lösen kann, mit ein paar Hinweisen. Vor allem meine ich, dass Prosa und Poesie in derselben Welt existieren und nicht so scharf von einander geschieden werden sollten. In meinem Gedichtband versuche ich, sie ineinander fließen zu lassen.

Finden Sie durch die Kommentierung einen neuen Zugang zu Ihren

Werken und handelt es sich dabei mehr um Gedanken, die Sie bereits während der Entstehung der Gedichte beschäftigt haben?

Klüger Die meisten Gedanken waren natürlich vor und während der Entstehung da. Zu meinem eigenen Erstaunen fiel mir dann doch manches ein und auf, als ich versuchte, die Leserschaft nachher anzusprechen.

Welche Rolle spielen Gedichte in Ihrem Leben überhaupt?

Klüger Eine sehr große Rolle. Ich habe immer ein paar Gedichtzeilen im Kopf, Gedichte von den verschiedensten Dichtern, die sich unvermutet bei mir melden und mir ein paar Tage lang Gesellschaft leisten, mich zum Nachdenken verleiten, mich zum Nachempfinden verführen. Gedichte sind für mich Trost, Erholung, Unterhaltung.

Wie wichtig können Gedichte denn in lebensbedrohlichen Situationen sein?

Klüger Ich habe mir immer wieder Gedichte aufgesagt, wenn ich nervös war und wenn's mir an den Kragen ging. Gedichte stellen ein Gleichgewicht her, wenn man von Dissonanzen umringt ist.

Was bedeuten Ihnen heute Gedichte, die Sie früher sehr geschätzt haben, die Ihnen wichtig waren? Ist es auch eine Begegnung mit der Vergangenheit?

Klüger Viele Gedichte, die ich einmal hoch schätzte, haben den Test der Zeit nicht bestanden, darunter auch klassische, wie Schillers erzählende Gedichte. Ich kann sie trotzdem nach wie vor auswendig und langweile meine Freunde gelegentlich damit. Aber andere sind unauslöschlich, ein nicht auszulotendes Geschenk. Erst spät habe ich die großen Dichterinnen entdeckt - unter anderen Else Lasker-Schüler, Hilde Domin, Emily Dickinson - und bin dankbar für jede neue Entdeckung.

Gibt es ein Gedicht, das zentral für Ihr Leben war oder noch ist?

Klüger Zu viele um eines auszusuchen. Aber vielleicht der vielsagende Vers in Hölderlins "Patmos": "hinüberzugehen um wiederzukehren."

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort