Düsseldorf "Einmal bin ich schon gestorben"

Düsseldorf · Der Schauspieler Dirk Diekmann lebt mit einer transplantierten Lunge. Dennoch arbeitet er in Vollzeit am Schauspielhaus.

 Er steht in einem inneren Dialog mit seiner neuen Lunge: Der Schauspieler Dirk Diekmann vor dem Oberkasseler Café Muggle.

Er steht in einem inneren Dialog mit seiner neuen Lunge: Der Schauspieler Dirk Diekmann vor dem Oberkasseler Café Muggle.

Foto: andreas Bretz

Auf einmal keine Luft zu bekommen, gehört zu den Urängsten des Menschen. Dirk Diekmann stand auf der Bühne in Weimar, als ihm das widerfuhr. In einer Fechtszene geriet er ernsthaft in Atemnot. Und dann in Panik. Es war nicht das erste Mal, dass der Schauspieler Defizite spürte, obwohl er sportlich aktiv war und aufgehört hatte zu rauchen. Eine Odyssee begann. So viele Mediziner er auch aufsuchte, so viele verschiedene Diagnosen bekam er. Dazu "tonnenweise Cortison".

Die Kunst des Schauspiels, die der heute 57-jährige Hannoveraner beherrscht, half ihm dabei, seine Krankheit, die bei dem Anfall auf der Bühne noch keinen präzisen Namen hatte, geschickt zu vertuschen. "Theater ist der Ort, an dem man keine Schwäche zeigt", sagt Diekmann, den Intendant Günther Beelitz nach Düsseldorf ans Schauspielhaus holte und zu seinem Stellvertreter machte. Beelitz ist der Theatermacher, mit dem Diekmann am längsten zusammengearbeitet hat in seinem Leben, das sich von früh an dem einen Thema verschrieb, ganz ohne dass er dazu etwas tun musste. Dass man nie reich werden und nie Zeit für Freunde haben würde, und dass es sogar vorstellbar war, eines Tages in einem Wohnwagen zu wohnen angesichts des beim Theater verordneten Zigeunerlebens. Dies alles wissend, erklärte der junge Diekmann, den Rat seiner Eltern ignorierend, dass er Theatermann werden würde. Unbedingt. Und so kam es auch.

30 Jahre ist er schon Schauspieler, was 30 Jahre Jonglieren mit verschiedenen Seelenzuständen bedeutet. Zeitweise hat er bis zu 16 Rollen parallel gespielt, "am Ende hat man keinen eigenen Wortschatz mehr. Es fallen einem nur noch die Sätze aus den Rollen ein", sagt er. Tag für Tag habe er auf der Bühne gestanden; alles, was der Spielplan hergibt, mitgenommen, große und kleinere Rollen, ob "Hamlet", "Galileo Galilei" oder den Ferdinand. Sieben Jahre in Serie war Diekmann die Titelfigur in Goethes "Faust". Für diese Rolle wurde er zum "Schauspieler des Jahres" nominiert. "Ich bin geboren, um zu spielen", sagt er und dass er eine faustische Seele habe.

Später arbeitete er als Dramaturg und Regisseur. Doch das Schauspiel ist bis heute sein Ein und Alles. Einmal nur im Leben wollte er eine Kunstpause einlegen und nach Indien fahren, schon lange ist das her. Es ging ihm wie vielen seiner Generation: In Indien wollte er sich finden. Davon hielt ihn Beelitz ab, dem er erstmals in Wiesbaden begegnet war. Der ewigwährende Intendant riet ihm, nach Weimar zu gehen. Und: "Weimar wurde mein Indien". Vor Goethes Gartenhäuschen habe er sehr einsame und meditative Momente durchlebt, die ihn weiter und zum Theater zurückbrachten.

Die Bühne ist der Ort, den Diekmann als sein Zuhause bezeichnet. Dort ist er gern auch aus Gründen der Eitelkeit. Keine Frage. Das Wichtige aber sei neben dem Durchdringen des Textes und dem Weiterspinnen der Figur die Imagination, der sich ein Schauspieler hingibt: "Wie weit kann man gehen - bis man nicht verschwindet?"

Sehr reale Angst zu verschwinden, überkam Dirk Diekmann dann vor mehr als sechs Jahren, kurz vor Weihnachten 2010. Inzwischen war er auf eine Ärztin gestoßen, die seine Atemnot ordentlich diagnostizieren konnte. Er hatte erfahren, dass er an einem äußerst seltenen Gendefekt litt, dem Alpha-1-Antitrypsin-Mangel. Nur etwa einer von 10.000 Menschen hat diese enzymatische Fehlreaktion, die zu chronischen Entzündungen führt. Die Lunge ist nur noch eingeschränkt zum Gasaustausch fähig. "Irgendwann kann man nicht mehr atmen", sagt Diekmann, der sich lange Sauerstoff aus Flaschen zuführte.

Hätte man in jungen Jahren den richtigen Test gemacht, wäre ihm der radikale Schnitt womöglich erspart geblieben. Jetzt aber konnte ihn nur noch eine Transplantation retten. Plötzlich stand das ultimative, wuchtige Wort im Raum. "Fahren Sie schnell nach Innsbruck und lassen sich listen", riet ihm eine Ärztin in Bregenz, wo er gerade am Theater gastierte. Dieses Engagement war sein Glück, weil in Österreich andere Organspendegesetze gelten als in Deutschland, daher mehr Organe zur Verfügung stehen und die Wartezeiten kürzer sind. Alle vier Wochen kam ein Anruf vom Krankenhaus, doch zweimal hintereinander passte es nicht, war er vergebens mit Blaulicht ins Spital gerast. Die erste Lunge war zu groß, die zweite vereitert.

Beim dritten Anruf - zu Hause hatte man fürs Fest eingekauft und Gäste eingeladen - wollte Diekmann gar nicht mehr fahren. Er hätte am liebsten "nein" gesagt. Er hatte sich schon aufs Sterben vorbereitet. Und doch machte er sich auf zur riskanten OP. Die Chance stand: 50:50. Im Vorgespräch hatte er erfahren, dass Heilung nicht zu erwarten sei, die Lebenserwartung - so das Organ nicht abgestoßen werde - nicht weit über fünf Jahre hinausreiche und dass das Leben mit einer neuen Lunge einer lebenslangen Therapie und extremen Vorsichtsmaßnahmen im Alltag bedürften. Zeit, darüber nachzudenken, blieb nicht, Alternativen gab es keine.

Die Transplantation dauerte acht Stunden. Unter beiden Lungenflügeln wurde der Brustkorb bis hinter die Achseln aufgeschlitzt, links- und rechtsseitig wurden die Rippen in Serie gebrochen, damit der Organaustausch stattfinden konnte. Dazu wurden alle Körperfunktionen abgeschaltet. "Einmal bin ich schon gestorben", sagt Diekmann, der an den Zustand des klinischen Totseins keine Erinnerung hat. Nur als er aufwachte, fragte er: "Atme ich alleine?" Er fühlte sich sehr müde und gleichzeitig sehr glücklich. "Es waren schwere Tage nach der OP", sagt er - jetzt schimmern seine Augen bewegt. Seitdem muss er Immun-Depressiva nehmen, sich in jedem Moment und an jedem Ort extrem vorsehen, dass er keine Infektion bekommt. Bald nach der OP hat er die Arbeit wieder aufgenommen. "Das Theater hat mir das Leben gerettet", sagt er, "mit seiner täglichen Zielsetzung". Manchmal läuft er mit Mundschutz durchs Schauspielhaus - nur auf der Bühne nicht. Fast niemand in seinem Umfeld weiß etwas von der fremden Lunge.

Schließlich habe er es auch für seinen Lebenspartner getan, bekennt Diekmann, im Namen der Liebe "ja" gesagt zur Transplantation. Dem unbekannten Spender ist er extrem dankbar. "Jetzt ist es die Kunst, das Beste aus der verbleibenden Zeit zu machen."

(RP)
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