Gastbeitrag Durs Grünbein: einmal im Heine-Haus schlafen

Düsseldorf · Der Dichter Durs Grünbein ist seit 2005 Professor für Poetik an der Kunstakademie Düsseldorf. Der Lyriker und Büchner-Preisträger verehrt das Heine-Haus und die Buchhandlung von Müller & Böhm dermaßen, dass er einen ungewöhnlichen Wunsch hegt.

 Durs Grünbein (rechts) mit anderen Heine-Haus-Fans - von links: Buchhändler Rudolf Müller, Hanser-Verleger Michael Krüger, Autorin Esther Kinsky, Verleger Christoph Buchwald und Autor Lutz Seiler.

Durs Grünbein (rechts) mit anderen Heine-Haus-Fans - von links: Buchhändler Rudolf Müller, Hanser-Verleger Michael Krüger, Autorin Esther Kinsky, Verleger Christoph Buchwald und Autor Lutz Seiler.

Foto: Endermann, Andreas

Was machen Buchhandlungen eigentlich nach Ladenschluss, tief in der Nacht? Früher träumte ich oft von Museen, in die ich mich einschließen ließ wie der Kunsträuber in die zu plündernde Schatzkammer, später waren es hin und wieder Antiquariate, die mir Träume der Wunscherfüllung bescherten. In Düsseldorf weiß ich nur einen einzigen Ort, an den ich mich nachts unbeobachtet gern einmal einschleichen würde, um dort ausgiebig in den Bücherregalen zu stöbern.

Es ist die Buchhandlung Müller & Böhm im Heine-Haus, Bolkerstraße. Nicht dass ich den Mythos brauchte, aber Dichter sind so: Sie können den Stammesinstinkt nie verleugnen. Da ist ein Ladengeschäft, das Schaufenster gefüllt mit den Klassikern der Saison - und hier wird darauf geachtet, dass unter den immer neuen Namen die beständigen wiederkehren. Und dann das Wissen: hier, im Hinterhausteil, wurde das Judenkind geboren, der kleine Harry, Düsseldorfs berühmtester Dichtersohn. Leider ist es eher unwahrscheinlich, dass er dort nachts, neugierig wie zu Lebzeiten, noch immer herumspukt. Eines aber ist sicher: Selinde Böhm und Rudolf Müller, die Betreiber des hell erleuchteten, wohlgeordneten, in die Tiefe des Raumes sich erstreckenden Bücherschatzhauses, sind es leid, den üblichen kommunalen Ablasshandel mit den Klassikern zu betreiben. Ein paar Backsteine des alten Hauses, in den neuen Veranstaltungsraum für die Lesungen integriert, müssen genügen. Es würde auch nicht viel nützen.

Niemand schert sich hier, inmitten der Altstadt, der berüchtigten Kampfzone des allgemeinen rheinischen Alkoholkonsums, um literarische Traditionen. Oder auch nur um die jüngste Vergangenheit, geschweige denn um Gedichte und Balladen in Reimform. Dass einer, der einstmals mehrere von ihnen vertonte (Robert Schumann), den Rhein auf und ab wandelnd in romantischpsychotischer Verwirrung endete, wundert hier keinen mehr, den Touristen nicht und schon gar nicht den Einheimischen, der sich nahkampferprobt durch die Fußgängerzone zu schlängeln versucht.

In solcher Umgebung also, einer wahren Durchmarschzone in Zeiten des Internet-Kapitalismus, muss sich behaupten, was immer schon Anlaufstelle jedes Literaturinteressenten in Düsseldorf war. Ich kann sagen: Ich bin dabei gewesen, als es den Laden bereits in einer der Nebenstraßen gab, in den neunziger Jahren. Der Dichter Thomas Kling war noch am Leben, mein ortskundiger Führer - und von ihm kam der Hinweis auf die wenigen Oasen, in denen man sich im Rheinland mit dem nötigen Bücherproviant versorgte. "Müller & Böhm" waren Legende, bevor der Überlebenskampf in den neuen Wüsten der Buchhandelsketten begann. Unvergesslich die Schilderung des Umzugs aus dem ehemaligen Domizil an der Neustraße, den ich leider versäumte. Ich hätte mich gern eingereiht in die Menschenkette der Kunden, die damals die Bücher durch die Düsseldorfer Altstadt reichten in einer großen Demonstration von Bürgersinn. "Die Bolkerstraße ist Anziehung und Abschreckung zugleich", schreibt ein Ortskenner, der weiß wovon er spricht, Peter Eickhoff, Verfasser eines Düsseldorf-Reiseführers.

Kein Handbuch zur Stadt aber wäre vollständig, enthielte es nicht eine Lobeshymne auf die einzig ernstzunehmende Literaturbuchhandlung des von Sanierungen, Messen und dauerndem Karneval gebeutelten Düsseldorf. Ich sage das als Dauergast, der die Stadt zu jeder Tages- und Nachtzeit erlebt hat, Sympathie und Antipathie halten sich da die Waage. Dass ich einmal wirklich eine Zeitlang bei meinen Buchhändlern geschlafen habe, zur Untermiete in ihrem ehemaligen Geschäftsbüro, gehört nicht hierher. Oder doch: Es hilft, mein fast familiäres Verhältnis zu ihnen und ihrem Unternehmen zu verstehen. Ich kaufe ja Bücher nicht, weil ich sie alle benötige, sondern weil ich mir ausmale, wie herrlich es sein wird, sie demnächst - sagen wir, eines Tages zu lesen.

Eine Nacht in der Schatzkammer könnte mir manchen Fehlkauf ersparen. Aber das wäre, ich weiß es, ein Verrat am Geschäftsprinzip. Und ich hätte ja auch alle Zeit der Welt, mich bei Tage dort umzusehen, niemand drängt mich. Bei "Müller & Böhm", meinem Favoriten unter den wenigen aparten Buchhandlungen des Landes, herrscht eine entspannte Atmosphäre. Es gibt, hat man den langen Korridor mit den Vitrinen zur Linken, den Regalen zur Rechten erst einmal passiert, Stühle genug, sogar eine kleine Bar mit Espressomaschine, sich zurückzuziehen und in Ruhe zu blättern. Eingeschweißte Ware wird einem sogleich bereitwillig geöffnet, Entlegenes mit auffallend sicherem Griff hervorgezogen. Kein langes Suchen, kaum ein Titel, bei dem nicht sofort ein Licht aufginge, oft nur halb ausgesprochen, ist er hergezaubert. Geschichten wie die von der jungen Verkaufskraft in einer Bücherboutique, die bei der Bitte um einen Band mit "Vorsokratikern" Buchstabierhilfe braucht, um anschließend in ungläubiges Gelächter auszubrechen, klingen hier wie aus einer anderen Welt. Man merkt, es sind studierte Menschen an der Arbeit.

Daher auch die versierte Anordnung der Bücher - und das gilt nicht nur für die Literatur der Saison, die Werkausgaben moderner und alter Klassiker, auch die Geisteswissenschaften, Schriften zur Kunst, zum Film haben ihre je eigene Sektion, und als krönender Abschluss der Regalreihe erwartet einen ganz hinten, kurz vor Bar und Veranstaltungssaal, die Rubrik Philosophie. Subtiler Fingerzeig zweier geistesgegenwärtiger Sortimenter: Wer es bis dorthin geschafft hat, der hat es auch sonst im Leben geschafft, hier ist er am Ziel aller Lektüren. Blickt man von dort zurück, hat man das Gefühl, in einer Bibliothek zu stehen - allerdings einer mit lauter druckfrischen Exemplaren.

Diese Ordnung aber hat nichts Erschlagendes, sie steckt voller Anspielungen und zeigt sich als heiteres Arrangement. Ortsansässige Künstler, treue Kunden sie selbst, darunter einige Weltberühmtheiten, haben in den Räumen kleine Akzente gesetzt. Man spürt, die Buchhandlung ist in der lokalen Kulturszene, bei Leuten mit Geist und Geschmack, eine feste Adresse. Im Rheinland hat man, die hohe Quote an Kunstsammlern zeigt es, eine Vorliebe für Bilder. Wer darüber hinaus auch noch Literatur für sein heimisches Museum braucht, versorgt sich hier.

Das richtige Buch aus der Fülle der Neuerscheinungen herauszufinden, zählt zu den letzten geistigen Abenteuern. Der Ort ist mir auch darum ans Herz gewachsen, weil ich hier noch immer fündig wurde - und weil so vieles mittlerweile dagegen spricht, in diesem Teil der Innenstadt. Es bleibt eine prickelnde Phantasie: inmitten der allgemeinen Ballermann-Vulgarität in den künstlichen Paradiesen des Schrifttums zu schwelgen. Ich kenne das Drama des Einzelhandels aus nächster Nähe. Ich weiß, was es heißt, die realen (nie genug zu bezahlenden) Wunder der Gutenberg-Ära in einer Phase der virtuellen Verfügbarkeit aller Texte, auch der aggressiven Anfechtung des Urheberrechts, unverdrossen unter die Leute zu bringen.

Was ist schon der Ärger über einen gelegentlichen Ladendiebstahl gegen die Ohnmacht vor politisch legitimierter Produkt-Piraterie? Wenn das Prinzip Gratis (Peter Sloterdijk) um sich greift, steht der Buchhändler mit seiner leicht verderblichen Ware eines Tages auf verlorenem Posten. Ich muss mich zügeln, nicht nostalgisch zu werden. Beim Anblick meiner Düsseldorfer Buchhandlung kommen Gedanken an bürgerliche Geschäftsformen auf, die nun insgesamt auf dem Spiel stehen. Es ist die Epoche der Cotta, Hoffmann & Campe bis zu S. Fischer und Suhrkamp, die hier in mildem Abenddämmer erscheint.

Zwei Schaufenster, die zum Verweilen laden, immer neu mit dem Schwierigsten, Schönsten der Weltliteratur von gestern und heute geschmückt, die Scheiben mit Rezensionen und persönlichen Empfehlungen beklebt wie eine studentische Wandzeitung, zum Zeichen, hier werden nicht nur Umsätze gemacht, hier wird auch gelesen. Im Inneren des Ladens freundliche Helligkeit, Aufgeräumtheit: der Kontrast zum düsteren Kaschemmenlicht der Ausschankstuben und Rauschmittelhöhlen ringsumher könnte größer nicht sein.

In der Nacht klingen die Schwanengesänge am schönsten. Wenn ich durch den nahe gelegenen Hofgarten heimradle, vorbei an den schweigenden Schwänen, an einzelnen dunklen Gestalten auf den Parkbänken, denke ich manchmal noch: Wie bequem es doch wäre, ich hätte mein Lager gleich dort aufschlagen können, zwischen den Bücherwänden von Müller & Böhm.

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