Vierbändige Werkausgabe im Heine Haus präsentiert Ein Wanderbericht nur in Kleinschreibung
Düsseldorf · Vier Literaturkenner stellten im Heine Haus die „Werke in vier Bänden“ des vor 16 Jahren früh gestorbenen großen Düsseldorfer Lyrikers Thomas Kling vor.
Thomas Kling war ein Feuerkopf und zugleich ein zärtlicher Denker. Zwischen diesen Polen spielte er in starken Auftritten auf der Klaviatur seiner Lyrik, bis er 47-jährig starb. Heute gilt er als bedeutendster deutschsprachiger Lyriker der 1980er und 90er Jahre – und als einer der Großen in der Literatur des 20. Jahrhunderts.
In der Literaturhandlung Müller und Böhm im Heine Haus erinnerte jetzt ein vierköpfiges Podium vor Publikum und in Anwesenheit von Klings Witwe, der Künstlerin Ute Langanky, an Leben und Werk des Dichters und Essayisten. Die meisten Zuhörerinnen und Zuhörer werden ihn noch persönlich erlebt haben. Jetzt können sie ihn in seinen Texten wiederentdecken und darüber hinaus von unbekannten Seiten kennenlernen durch die neue, vierbändige Werkausgabe: 2692 Seiten, erschienen bei Suhrkamp, herausgegeben von Marcel Beyer und drei Mitherausgebern (148 Euro).
Verlag und Editoren wollten damit "aus Kling einen Klassiker machen", wie Beyer erklärte – keine Gesamtausgabe zwar, aber doch eine mit Quellenangaben und allem, was zu einer ordentlichen Werkausgabe gehört.
Darin findet sich manch Unerwartetes. Etwa zwei Texte, die Kling als 17-Jähriger für das Magazin des Deutschen Alpenvereins, Sektion Düsseldorf, verfasste. Er war Mitglied und erprobte sich als Autor von Tourenberichten. Eine Gruppe von 20 Jungkletterern fuhr mit dem Bus in die Eifel, nach Blens im Nationalpark zur Düsseldorfer Hütte des Vereins. Humorig schildert Kling durchweg in Kleinschreibung eine Wanderung mit abendlichem Kotelettbraten. Im Prolog zu seinem späteren, zweiten Bericht verteidigt er gegenüber dem Herausgeber des Magazins seine eigenartige Schreibweise mit einem Paukenschlag, indem er sich auf Stefan George beruft.
Die Lyrikerin und Erzählerin Marion Poschmann übernahm am Kling-Abend den Part der Vorleserin und zugleich den der Interpretin, trug Klings expressionistisch umwehtes Gedicht „Friedhofsblumen“ vor und erinnerte dabei an sein erstes Buch „Zustand vor dem Untergang“, dem es entstammt. Moderator Hubert Winkels nahm das zum Anlass festzuhalten, dass Thomas Kling „lange ein Lyriker ohne Buch“ war. Er verbreitete seine Dichtungen mündlich, in Performances, zuweilen mit kalkulierten Gefühlsausbrüchen und dann wieder mit verhaltener Stimme. Ein Langweiler war er nie.
Der Schriftsteller Oswald Egger, der wie einst Kling auf der ehemaligen Raketenstation Hombroich in Neuss wohnt, wusste beizusteuern, wie Kling seine Auftritte auf die Spitze trieb – indem er zum Beispiel ein Weinglas mit einer Drehung akrobatisch zum Mund führte. Marion Poschmann ging dann zu einem Thema über, das Klings Werk durch die Jahre wie ein Faden durchzieht: Tiere. In Palermo fällt sein Blick auf ein totes Tier am Straßenrand, später bedauert er lyrisch, dass er im Garten eine Kröte versehentlich mit dem Spaten zerhackt hat. Mitleid klingt an. In späteren Gedichten versteckt es sich unter einer härteren Sprache. Tiere sind Teil eines übergreifenden Themas: Krieg, Schlachtfelder, überhaupt Gewalt.
Zwei Bärengedichte bildeten den Abschluss des anderhalbstündigen Abends, ein frühes und ein spätes. Das späte zeugt davon, wie sehr Kling mit der Herkunft einzelner Wörter arbeitet, wie er Berg und Bär und bergen zueinanderführt und dabei manches über sich selbst preisgibt. Für die Texte, mit denen er bekannt wurde, blieb am Ende keine Zeit mehr: sein Debüt „Erprobung herzstärkender Mittel“ von 1986 und seinen Durchbruch mit „geschmacksverstärker“ von 1989.
Als ich Thomas Kling 1984 als 27-Jährigen kennenlernte, wusste ich nicht, dass er Gedichte schrieb. Ich kannte ihn nur als den jungen Mann, der jeden Freitag morgens ins Kino ging, am frühen Nachmittag in die Kulturredaktion der Rheinischen Post wechselte und sich dort an einer mechanischen Schreibmaschine niederließ, um kurze Besprechungen von Filmen zu formulieren, um welche die anderen Kritiker einen Bogen machten. Sie hießen „Eis am Stiel 5 – Die große Liebe“, „The Executor“ oder „Die Muppets erobern Manhattan“ und richteten sich an ein Massenpublikum. Thomas Kling ging liebevoll humorig mit ihnen um, benutzte nur hier und da etwas klischeehafte Formulierungen, die er sich später nicht mehr durchgehen ließ.
Ende der 90er Jahre traf ich ihn in seiner Wohnung auf der Insel Hombroich wieder. Wir sprachen kaum über seine Gedichte. Viel lieber erzählte er von seinen spracharchäologischen Exkursionen, ins Mittelhochdeutsche und ins Grimmsche Wörterbuch, wo er fündig wurde für seine Wortschöpfungen von hoher Sprengkraft.