Düsseldorf Bühne Tabu-Thema: Sex auf der Bühne

Im Jungen Schauspiel wurde über den künstlerischen Umgang mit Tabus diskutiert.

 Szene aus „Die Mitte der Welt“ von Andreas Steinhöfel im Jungen Schauspielhaus.

Szene aus „Die Mitte der Welt“ von Andreas Steinhöfel im Jungen Schauspielhaus.

Foto: David Baltzer

Das Junge Schauspiel hatte Redebedarf angemeldet und zu einer Diskussion eingeladen. Der Anlass war eigentlich ein guter: Das Stück „Die Mitte der Welt“ nach der Romanvorlage von Andreas Steinhöfel hat die 5000-Besucher-Marke geknackt. Seit November vergangenen Jahres steht es auf dem Spielplan. Und obwohl es in dem Stück um vieles geht – um die erste Liebe, ums Heranwachsen, um die Familie, Freundschaft und Sexualität – entstand der Redebedarf wegen 30 strittiger Sekunden: Zwei junge Männer, Kilian Ponert und Paul Jumin Hoffmann, küssen sich, dann verschwinden sie hinter einem Duschvorhang, „den Rest fantasieren die Zuschauer selbst“, sagte Kirstin Hess, Dramaturgin des Stücks.

Einigen Zuschauern aber war das zu viel. Der Elternverein NRW beschwerte sich, Sex sei Privatsache und homosexuelle Liebe auf der Bühne, das gehe zu weit. Zur Diskussion waren deswegen Experten geladen, Fachleute in Fragen des Grenzwertigen und Provokativen in Kunst und Kultur.

Die Kunsthistorikerin und Kuratorin Nicole Grothe etwa verwies auf Beispiele des Anstößigen in der bildenden Kunst. Zum Beispiel eine mittelalterliche Darstellung des Heiligen Sebastian, qualvoll zu Tode gefoltert, mit Pfeilen im Kopf. Auslöser gesellschaftlicher Empörung? Wohl kaum. Die Sexualpädagogin Katja Uhlig war da und erinnerte an den Slogan aus Frauen- und Studentenbewegung der 1970er Jahre: „The private is political“, das Private ist politisch. Und die Theaterwissenschaftlerin Maren Butte berichtete von ihrer Forschung nach dem Begriff des Obszönen, dem Aushandeln von sittlichen Grenzen auf der Bühne. Günter von Stein ist Gymnasiallehrer in Wermelskirchen, einer von Freikirchen geprägten Gegend. Homosexualität ist dort manchmal noch Tabu-Thema, und von Stein erzählte von seiner Lehrerrolle „zwischen den Stühlen“.

Konsens der Diskussionsteilnehmer war: „Die Mitte der Welt“ bringt auch andere Themen auf die Bühne – Gewaltbereitschaft, Alleinerziehende, lesbische Partnerschaft, aber auch Sex zwischen heterosexuellen Partnern –, an denen sich die Kritik überhaupt nicht gestört hat. Maren Grothe stellte deswegen die Frage: „Ist es weniger die Sexualität, als die Zärtlichkeit zwischen zwei Jungs, die das Empören der Kritiker hervorruft?“

Dramaturgin Kirstin Hess erzählte von den Reaktionen der Kinder und Jugendlichen, die das Stück besuchten. Bei vielen Schülergruppen habe sie keinen Unterschied bemerkt, wenn die Schüler auf intime Situationen zwischen Männer und Frauen oder zwischen zwei Männern reagierten. Dann habe sich eine Klasse gemeldet, mit Kindern von Familien aus einem anderen kulturellen Kontext, wo beispielsweise religiöse Prägung ein Rolle spielt. Auf sie wirkte das Liebesverhältnis zwischen den beiden Hauptrollen befremdlich, weil Rollenbilder zu Hause anders vorgelebt werden.

Nach der Diskussion begannen im Foyer lebhafte Gespräche zwischen den Besuchern. Sie widmeten sich der Frage, wer eigentlich dafür verantwortlich sei, wenn die Darstellung von etwas Diversem von Schülern als provokant empfunden wird. In welchem Rahmen sind Tabus im Jugend-Theater sinnvoll, und welches Publikum spricht man damit an? Ein Teilnehmer mahnte auch zur Vorsicht: „Den wenigen Personen, die die Diskussion ausgelöst haben, dürfen wir nicht zu viel Macht zugestehen.“

Die Teilnehmer der Gesprächsrunden, darunter viele Lehrer, stellten fest: Homophobie nehme zu, und was sich auf den Schulhöfen zeigt, sei nur ein Teil eines größeren, gesellschaftlichen Problems. Und das, obwohl der Kontakt mit Pornografie bei Kindern und Jugendlichen durch das Internet heute sehr früh entsteht.

„Warum muss immer das Zebra erklären, warum es Streifen hat?“, so formulierte es Kirstin Hess bilanzierend. Das Junge Schauspiel will sich eines Perspektivenwechsels annehmen und fördert daher Diskussionsrunden dieser Art.

Die tatsächlichen Kritiker und Auslöser der Debatte, Vertreter des Elternkreises NRW, waren an dem Abend nicht anwesend.

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