Künftige Leiterin des Tanzhaus NRW „Ich habe mich gefühlt wie Alice im Wunderland“

Interview | Düsseldorf · Die zukünftige Intendantin des Tanzhauses NRW, spricht im Interview mit der Rheinischen Post über Freiheit, Heimat und die Kraft des Tanzens.

 Ingrida Gerbutaviciute leitet ab Sommer das Tanzhaus NRW.

Ingrida Gerbutaviciute leitet ab Sommer das Tanzhaus NRW.

Foto: Bretz, Andreas (abr)

Kaunas ist europäische Kulturhauptstadt, die Unabhängigkeit jung – wieviel von der Aufbruchstimmung Litauens nehmen Sie mit in Ihr neues berufliches Leben?

Gerbutaviciute Für den Tanzbereich war ich sowohl in Deutschland als auch in Litauen tätig. In Litauen bin ich geboren und aufgewachsen, seit 15 Jahren lebe ich in Deutschland. Die Konzepte, die ich mitbringe, sind also nicht rein litauisch, aber auch nicht rein deutsch.

Sie haben als Kind klassisches Ballett gelernt, Ihr Herz hängt jedoch am zeitgenössischen Tanz, wie kommt das?

Gerbutaviciute Wir sind mit der Familie an jedem Wochenende ins Nationaltheater für Oper und Ballett gegangen. Die Oper konnte ich als Kind nicht verstehen und fragte meine Mutter: Warum schreien die Menschen auf der Bühne so? Die Ballettvorstellungen habe ich hingegen sofort gemocht. Das wollte ich lernen und tat es. Vita Mozuraite hat mir die wunderschöne Welt des zeitgenössischen Tanzes eröffnet. Ich habe mich wie Alice im Wunderland gefühlt. Später wurde ich beim Lithuanian Dance Information Center angenommen, wo ich Projekte selbst initiiert und geleitet habe und viele Kontakte zur internationalen Tanzszene knüpfen konnte.

Einen Großteil Ihres Studiums haben Sie in Berlin verbracht.

Gerbutaviciute Berlin war eine sehr wichtige Station in meinem Leben. Ich war dort als Stipendiatin erst einmal für ein halbes Jahr. 2005 habe ich dann in Litauen meinen Bachelor abgeschlossen und gedacht: Du musst nach Berlin zurückkehren, musst dort studieren und das unglaubliche Kultur-Angebot erleben. Die Multikulturalität dort ist bestechend. Bis 2016 war ich in Berlin.

Sie sind viel unterwegs, pendeln zwischen Deutschland und Litauen, reisen zu Festivals und Messen. Gibt es ein Zuhause?

Gerbutaviciute Mein Zuhause ist dort, wo ich mit meinem Mann lebe. Zuletzt war es Frankfurt, bald wird es Düsseldorf sein. Aber mein Zuhause ist auch noch da, wo meine Eltern leben, in Vilnius. Ich reise wirklich gern, brauche aber doch meine Ruhe. Ich mag es zu wissen, dass ich zu Hause in einem geschützten Raum bin.

Was bedeutet Ihnen Heimat?

Gerbutaviciute Zunächst: Litauen ist und bleibt Heimat. Das hängt mit der historischen Prägung zusammen; und es spielt auch eine persönliche Geschichte hinein. Als Litauen 1990 die Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit ausrief, hat Gorbatschow ein Jahr später die Armee in die baltischen Staaten geschickt. Ich ging damals in die zweite Klasse und kann mich gut an die Panzer erinnern. Die Sowjettruppen hatten das Parlament, die Radio- und Fernsehstationen besetzt. Die Menschen haben dagegen protestiert. Das lief absolut friedlich ab. Irgendwann haben die Soldaten dann begonnen, auf die Menschen zu schießen. Dabei ist mein Cousin ums Leben gekommen. Er war 17 Jahre alt. Wir Litauer sagen: Wir mussten uns unsere Freiheit hart erkämpfen. Diese Haltung hat mich sehr geprägt. Ich weiß, was Freiheit bedeutet, was offene Grenzen bedeuten und die Möglichkeit, im Ausland studieren zu dürfen.

Sie verstehen Bewegung als Daseinsform, was heißt das?

Gerbutaviciute Tanz oder Bewegung ist die treibende Energie in allem. Ich mag das klassische Theater wirklich sehr und habe größten Respekt vor dieser künstlerischen Leistung. Aber wenn ich mir ein klassisches Drama anschaue, fehlt mir die Bewegung darin.

Tanzen Sie noch?

Gerbutaviciute  Professionell tanze ich nicht mehr, aber privat tanze ich noch gerne. Momentan habe ich jedoch wenig Zeit dafür, da ich am Tanzkongress 2022 konzeptionell und dramaturgisch arbeite und zum Teil schon am Tanzhaus NRW bin.

Eine Besonderheit des Tanzhauses NRW ist, dass es sowohl ein Bühnen-  als auch ein Kursprogramm unter seinem Dach vereint. Beide Felder werden von Künstlern getragen. Wie gelingt eine Gleichbehandlung?

GERBUTAVICIUTE Das Tanzhaus NRW ist beides, Akademie und Bühne. Man darf jedoch den Kontext nicht außer Acht lassen. In der internationalen Tanzszene wird das Tanzhaus NRW hauptsächlich als Bühne wahrgenommen, in Düsseldorf und Umgebung hingegen vor allem als Akademie. Während meiner Wohnungssuche traf ich immer wieder Menschen, die mindestens eine Person kannten, die schon einen Kurs bei uns besucht hat.

Wie sieht Ihre Programmatik für das Haus aus?

Gerbutaviciute Es ist noch etwas früh, über konkrete Formate zu sprechen. An dem Saisonprogramm arbeite ich. Meine Philosophie ist, immer zuerst den Austausch zu suchen. Sei es das Team, seien es die Dozierenden, die Kursteilnehmenden oder sei es die regionale Künstlerszene. Ich schaue mir die Bedürfnisse an: Sind mehr Urban-Art-Workshops gewünscht? Brauchen lokale Künstlerinnen und Künstler Coaching-Angebote?  Wir entscheiden dann in der Teamleitung, was wir stemmen können und was vielleicht erst in drei Jahren machbar ist.

Sie sind also für ein starkes Mitspracherecht aller Beteiligten?

Gerbutaviciute Ich möchte ins Gespräch kommen, ja. An erster Stelle steht jedoch die Qualität der Angebote. Das ist für mich entscheidend sowohl im Hinblick auf die Kurse als auch auf die Bühnenstücke. Ich möchte alle Bereiche gleichberechtigt behandeln und betreuen. Vielleicht käme es den Dozierenden entgegen, einen Beirat zu bilden, es sind ja immerhin 50 Lehrende.

Was möchten Sie inhaltlich vorantreiben?

Gerbutaviciute  Die Themen der Gegenwart sind mir wichtig. Dazu gehören die Umweltkrise, Nachhaltigkeit, Diversität, Integration, Inklusion. Das sind große Begriffe, die aber sehr wichtig sind. Ich möchte die Kooperationen mit den Schulen stärken, mit den Jugendzentren, aber auch mit Senioreneinrichtungen. Das liegt mir sehr am Herzen. Die älteren Menschen sind sehr oft einsam, und ich glaube, dass Tanz das künstlerische Mittel ist, um zu ihrem Wohlbefinden beizutragen.

Der Start für Neubau und Sanierung des Tanzhaus NRW soll in diesem Sommer sein. Bleibt es dabei?

Gerbutaviciute Ich blicke optimistisch nach vorn. Details gibt es Mitte des Jahres. Aktuell befinden wir uns in der Planungsphase mit Architekt, Planern und Projektsteuerern in enger Abstimmung mit der Landeshauptstadt Düsseldorf und dem Land NRW.

Der Standort des Neubaus ist also geblieben, das Capitol, das sich ebenfalls auf dem Gelände befindet, war, wie man hört, nicht begeistert.

Gerbutaviciute  Mit dem Capitol bestehen über den geplanten Standort keine Differenzen.

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