Historiker schreibt an einem Buch Die Ulmer Höh’ war ein Ort des Verbrechens

Der Historiker und Leiter der gleichnamigen Mahn- und Gedenkstätte, Bastian Fleermann, sucht für sein Buch die Wahrheit über das Gefängnis in der Zeit des Nationalsozialismus. Die steht oft nur in Tagebüchern.

 Die Aufnahme zeigt den jüdischen Pelzhändler Albert Reinsberg mit seiner Frau Marta. Er beging 1937 in der Ulmer Höh’ Suizid.

Die Aufnahme zeigt den jüdischen Pelzhändler Albert Reinsberg mit seiner Frau Marta. Er beging 1937 in der Ulmer Höh’ Suizid.

Foto: Landesarchiv Duisburg

Als Heinrich Fuhrmann an einem Dezembertag im Jahr 1960 die Lindemannstraße in Flingern überquert, wird er überfahren und stirbt. Damals sind Totenzettel noch in Mode, damit der Verstorbene in guter Erinnerung bleibt. Über Fuhrmann heißt es: „Allen wollte er Freund und Helfer sein, der liebe Verstorbene.“ Ein Arzt „mit Herz und Gemüt“ sei er gewesen, „ein Mensch, der in Liebe und Güte den Hilfesuchenden stets begegnete“. Toten den Charakter schönzureden, ist nichts Ungewöhnliches in einem Trauerprozess. Im Fall von Fuhrmanns allerdings hätte sich Bastian Fleermann mehr Demut, mindestens aber einen Sinn für die Realität gewünscht.

Fuhrmann war Oberregierungsmedizinalrat im Krankenhaus der Strafanstalt Düsseldorf-Derendorf, wie die Ulmer Höh‘ formal hieß, aber von keinem Düsseldorfer je so genannt wurde. Das Gefängnis, das sich bis zum Jahr 2012 an der Ulmenstraße befand, hatte eine Kapelle, ein „Weiberhaus“, ein „Männerhaus“ und eben ein Hospital. In diesem wurden nahezu die gesamte Nazizeit über die kranken Gefangenen aller Anstalten des Oberlandesgerichtsbezirks Düsseldorf behandelt. Das jedoch ist noch nicht einmal die halbe Wahrheit. Was sich dort wirklich zugetragen hat, hat Bastian Fleermann, Leiter der Mahn- und Gedenkstätte, mit Unterstützung seines Teams recherchiert. Er schreibt derzeit an einem Buch über die Ulmer Höh‘ mit dem Titel „Schutzhaft an der Ulmenstraße. Das Gefängnis in Düsseldorf-Derendorf im Nationalsozialismus“. Die Veröffentlichung ist für kommenden Dezember geplant. Es ist die erste wissenschaftliche Betrachtung der Haftanstalt, die unter den Nazis zu einem Ort des Schreckens wurde. Die „größten Verbrechen“ haben sich Fleermann zufolge im Krankenhaus zugetragen, das viele Jahre unter der Aufsicht Heinrich Fuhrmanns stand. Bis zu dessen Tod im Jahr 1960.

Vor acht Jahren ruft Bernhard Lorenz Fleermann im Büro an. Lorenz ist zu diesem Zeitpunkt Direktor der Ulmer Höh‘: „Sie haben gesagt, Sie möchten sich das Gefängnis einmal anschauen. Jetzt ist eine gute Gelegenheit.“ Die Häftlinge waren erst wenige Tage zuvor an den neuen Standort der Justizvollzugsanstalt in Ratingen gebracht worden. Das Gebäude war also noch ein bisschen bewohnt, denn so rasch verschwinden die Spuren der Menschen nicht.

Fleermann und seine Kollegen verbringen einen ganzen Nachmittag in der Ulmer Höh‘. „Der Besuch hat mich bewegt“, sagt Fleermann, „und ich habe mir gedacht: Darüber möchte ich wissenschaftlich arbeiten.“ Er beginnt sein Projekt, als die städtebauliche Überplanung des Areals an der Ulmenstraße näherrückt, denn es ist ihm ein Anliegen, den Menschen, die dort künftig leben werden, davon zu berichten, was sich einst im Umfeld ihres neuen Zuhauses abspielte.

Jetzt ist das Buch beinahe fertig. Es behandelt das Kaiserreich und die Weimarer Republik, in der Hauptsache jedoch die NS-Zeit. „Das ist meine Aufgabe als Historiker in einer Gedenkstätte“, sagt Fleermann. Anfangs fragen sich er und seine Kollegen, wie viele der Verfolgten, deren Nachlass sie verwahren, wohl in der Ulmer Höh‘ waren? Heute lautet die Frage anders: Wer war eigentlich nicht dort? „Gefängnisse stehen im Schatten der Konzentrationslager“, sagt Fleermann: „Das KZ ist der Ort des nationalsozialistischen Terrors schlechthin, was an der Monströsität und der Dimension der Opfer liegt. Die Bedeutung des Gefängnisses als ein Ort, an dem in diesen Jahren ebenfalls Menschen regimebedingt inhaftiert waren, wird hingegen oft übersehen.“

Anfangs versucht Fleermann noch, die „normalen“ Straftäter von den politischen Häftlingen zu unterscheiden, bald gibt er diese Vorgehensweise jedoch auf. Die Nazis hatten ein Imperium an Gesetzen errichtet, welche imstande sind, die bloße Existenz eines Menschen in ein schwerwiegendes Delikt umzubilden. „Ein Jude kommt ins Gefängnis wegen eines Devisenvergehens, was bedeutet, dass er versucht hat, illegal das Ausland zu betreten“, berichtet Fleermann über den Fall des Düsseldorfer Pelzhändlers Albert Reinsberg. „Aus heutiger Sicht würde ich sagen: Der Mann wollte Deutschland verlassen, um seine Familie zu retten.“ Reinsberg wird in die Ulmer Höh‘ gebracht, wo er sich 1937 im Treppenhaus der Strafanstalt aus dem vierten Stock stürzt und stirbt.

Ein Jude und eine Christin sind ein Paar, ein Zeuge Jehova verweigert den Hitlergruß, ein unpolitischer Nachbar aus der Altstadt hört den Feindsender BBC – für alles und jeden gibt es einen Paragrafen, der eine Kriminalisierung legitimiert, wann immer sie den Nazis dienlich sein kann. „Wo will man vor diesem Hintergrund die Grenze ziehen zwischen politischen Häftlingen auf der einen Seite und unpolitischen Kriminellen auf der anderen Seite?“, fragt Fleermann.

Viele Düsseldorfer Kommunisten werden zu Beginn der Nazizeit inhaftiert, Gewerkschafter, einige Pazifisten und Anarchisten. Dann kommen die Juden, die Homosexuellen, die Sinti und Roma. 1936 werden auf einen Schlag 56 katholische Kirchenleute eingesperrt, darunter Ludwig Wolker, damals Generalpräses der katholischen Jugendbewegung. „Die Geschichte der Menschen, die in der Ulmer Höh‘ waren, ist eine breite Gesellschaftsgeschichte des Dritten Reichs unserer Region“, sagt Fleermann.

Auch Düsseldorfs Oberbürgermeister Robert Lehr sitzt in Derendorf ein. Die Gestapo führt ihn in Handschellen aus dem Rathaus. Ein halbes Jahr lang bleibt er in Isolationshaft. Über diese Zeit schreibt er später in seiner Autobiographie nur einen Satz: „Ich war in Haft.“ Fleermann genügt das nicht, er recherchiert im Stadtarchiv, das den persönlichen Nachlass von Lehr aufbewahrt, und findet ein Tagebuch, das dieser während seiner Haftzeit geführt hat. Darin berichtet der hochkonservative Mann über Weinkrämpfe und Panikattacken, Schlaflosigkeit und schlimme Magenschmerzen. „Man muss sich das mal vorstellen“, sagt Fleermann, „der Oberbürgermeister sitzt in seiner eigenen Stadt im Gefängnis und wird wie ein korrupter Verbrecher behandelt, der er nicht war.“

Neben der Aufarbeitung historischen Fakten geht es dem Autor vor allem um die individuellen Leidensgeschichten. Nur mit ihnen ist die Tragweite der nationalsozialistischen Vergehen zu begreifen. Fleermann stellt die bürokratischen Überlieferungen den persönlichen Erinnerungen der Überlebenden gegenüber. „Man mag meinem Buch später vorwerfen, dass Tagebücher und Briefe sehr ausführlich zu Wort kommen, aber das ist so gewollt. Denn in der Tagesstatistik steht nicht, wie sich eine Mutter fühlt, die im Gefängnis um ihr Kind weint.“

Wo immer möglich, werden die Menschen, die erwähnt sind, abgebildet. Opfer wie Wolfgang Langhoff, der von Derendorf ins Konzentrationslager Börgermoor im Emsland deportiert wurde, wo das Moorsoldaten-Lied entsteht. Die Gefängnisdirektoren, Schließer und Generalstaatsanwälte. Auch von Heinrich Fuhrmann gibt es ein Foto. Der Arzt hat im Krankenhaus der Ulmer Höh‘ bei Hunderten Frauen Sterilisationen vorgenommen und zahlreiche Häftlinge, insbesondere Homosexuelle, kastriert.

 Willi Kutz aus Gerresheim, Kommunist, war keine 20 Jahre alt, als er in die Ulmer Höh‘ kam.

Willi Kutz aus Gerresheim, Kommunist, war keine 20 Jahre alt, als er in die Ulmer Höh‘ kam.

Foto: Mahn- und Gedenkstätte

Auch von Willi Kutz aus Gerresheim gibt es eine Aufnahme. Kutz war Kommunist und wurde 1935/36 inhaftiert. Seine Biographie ist in der Dauerausstellung der Gedenkstätte nachzulesen. Einen Tag nach Fleermanns Besuch in der JVA hält ein LKW vor der Kultureinrichtung und lädt eine zentnerschwere Tür ab. Sie gehört zur der Zelle, in der Willi Kutz über Monate einsaß. Auch Kutz‘ Leseliste haben Fleermann und seine Kollegen gefunden. Das letzte Buch, das er dort gelesen hat, war der „Graf von Monte Christo“.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort