Serie zu vergessenen Dingen Pfeifen aus dem letzten Loch

Düsseldorf · Unser Kulturbetrieb speist sich aus dem Verborgenen. Manches ist präsent, kommt aber nicht zum Einsatz – wie die Tonhallen-Orgel.

 Mittlerweile hat sie nur den Charakter einer Attrappe: die Orgel der Tonhalle.

Mittlerweile hat sie nur den Charakter einer Attrappe: die Orgel der Tonhalle.

Foto: Susanne Diesner - Photography fo

In den 70er Jahren war ich oft in der Musikbücherei zu Gast. Dort hatten sie brandneue Gesamtausgaben der großen Komponisten, alle nach wissenschaftlichen Regeln ediert, kostbare Folianten mit Kommentar und Kritischem Bericht. Ich bestaunte die Exemplare, die von erheblichem Forscherfleiß kündeten. Sie wirkten unberührt, wie stille Produkte einer Wissenschaft, die nicht mit der Welt kommuniziert. Ausleihen konnte man sie nicht. Kaum je hat sie ein Besucher in die Hand genommen.

Solche vergessenen Dinge gibt es in der Kultur viele. Das hat auch mit Produktionsgesetzen zu tun. Domenico Scarlatti schrieb zu seiner Zeit 555 Cembalosonaten, von denen damals jede einzelne ihren Sinn und ihre Aufgabe besaß. Jetzt sind sie eine gewaltige Erblast, und sehen wir von Gesamteinspielungen ab, die ja automatisch den Zwang zur Vollständigkeit besitzen, dürfte es etliche Sonaten geben, die seit der Barockzeit nicht mehr öffentlich gespielt worden sind.

Im Luxus des Angebots entgeht dem Blick vieles. Auf manchen Tauschbörsen möchte man drei Tage verweilen dürfen, um das vollständige Angebot ausgiebig mustern zu können. Doch ist unsere Zeit begrenzt, und so werden Dinge vergessen. Sie haben keine Chance, sich dem Gedächtnis zu imprägnieren.

Solche Schätze wollen wir in unserer Serie bergen, wir begeben uns in die hinteren Räume, das Archiv, den Fundus; wir schauen genauer in die Regale. Manchmal müssen wir uns aber auch gar keine Mühe machen, denn das Vergessene steht offensichtlich vor uns. Wie zum Beispiel die Orgel der Tonhalle. Sie hat zwei Manuale mit Pedal und wurde in den 70er Jahren für die damals umgebaute Tonhalle von der Bonner Orgelbaufirma Klais gefertigt. Schon damals zeigte sich, dass das Instrument nur begrenzt leistungsfähig ist. Es besitzt im Tutti zu wenig Durchschlagskraft, es hat zu wenig Farben – und irgendwann gab es auch keine Ersatzteile mehr. Dann schaffte die Tonhalle eine neue digitale Orgel an, mit dem „Hauptwerk“-System – darin sind die Klangcharakteristiken berühmter großer Orgeln etwa von Aristide Cavaillé-Coll, Arp Schnitger oder Gottfried Silbermann gespeichert.

Wenn jetzt beispielsweise ein großes Chorkonzert in der Tonhalle einer Orgel bedarf, dann schauen alle Zuhörer ehrfürchtig auf den Pfeifenprospekt der Tonhallenorgel, die aber gar nicht erklingt. Man hat vielmehr Lautsprecherboxen hinter die Pfeifen gestellt; man bedient sich der toten Königin der Instrumente wie einer Attrappe, man simuliert Erhabenheit, andererseits aber auch nicht. Die alte Orgel ist ja immer da, es würde ein schreckliches Loch klaffen, wenn sie abgebaut würde. Irgendwie ist sie dort an der Rückseite des Podiums festgewachsen – wie eine alte Spinne mit ihrem dichten Spinnweben.

Selbstverständlich gab es Bemühungen, die alte Dame begrenzt zu reaktivieren. Andererseits ist eine Pfeifenorgel ziemlich unbeweglich und sperrig, sie macht entsetzlich viel Mühe. Will man sie stimmen, dann muss man konsequent alle Pfeifenreihen durchstimmen. Und dann auch die Stimmtonhöhe: Nimmt man a‘ = 440 Hz oder etwas anderes?

Ich erinnere mich an einen wunderbaren kurzen Wortwechsel, den ich einmal mit dem großen Dirigenten Leonard Bernstein hatte. Er war Ende der 1980er Jahre beim Schleswig-Holstein Musik-Festival zu Gast, und zwar in der Kirche St. Johannis in Lüneburg. Dort sollte abends Mozarts „Requiem“ erklingen, ich durfte in die Generalprobe und saß in der zweiten Bankreihe. Vor dem „Dies irae“ blickte Lennie sich um, betrachtete die majestätische Orgel auf der rückwärtigen Orgelempore und rief mit seiner von tausend Brandys und Millionen Zigaretten gereiften Stimme: „I think we should use the big one.“ Für den Tag des Zornes wollte er es brausen lassen.

In diesem Moment fiel mir ein, dass die Orgel in St. Johannis ein ehrwürdiges Instrument ist, das auf einer historischen Stimmtonhöhe steht: a‘ = 453 Hz, also deutlich höher als die normale Stimmtonhöhe eines Orchesters. Ich fasste mir ein Herz und rief dem Dirigenten zu: „Sorry, maestro, it’s the wrong pitch!“  Lennie schaute mich an, als sei ich soeben vom Sirius gelandet, verzog wegen der „falschen Tonhöhe“ erst das Gesicht und rief „Fuck!“, dann lachte er und sagte leiser: „Thanks, my friend.“ So trefflich und drastisch hat noch nie jemand das Phänomen der Unbrauchbarkeit kommentiert.

So ist es auch mit unserer Orgel in der Tonhalle. Sie sieht ohne Zweifel erhaben aus (wenn auch ein wenig spartanisch). Aber für Musik ist sie mittlerweile ungeeignet. Unvergesslich hat sie noch nie geklungen. Als optische Reliquie darf sie gleichwohl bleiben. Vergessene Dinge leben davon, dass sich niemand an den Moment erinnert, da sie in Gebrauch waren.

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