Liao Yiwu lebt seit 2011 als Dissident in Berlin. Jetzt war er Gast im Düsseldorfer Haus der Universität. „Todesfuge auf chinesisch“

Düsseldorf · Der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu las im Haus der Universität. Erinnerungen an das Tienanmen-Massaker.

 Chinesische Exildichter und Friedenspreisträger: Liao Yiwu im Haus der Universität.

Chinesische Exildichter und Friedenspreisträger: Liao Yiwu im Haus der Universität.

Foto: Anne Orthen (ort)

Ein einziges Gedicht kostete den chinesischen Schriftsteller Liao Yiwu fünf Jahre seines Lebens. Die grauenvollen Erlebnisse in einem Gefängnis prägen seither sein Leben genauso wie das, wovon das im Juni 1989 geschriebene Poem handelt: das Tienanmen-Massaker. Seit 2011 lebt Liao als Dissident in Berlin. Als er jetzt im Düsseldorfer Haus der Universität zu Gast war, hatte er seine „Massaker“-Verse im Gepäck.

Ein Ausschnitt: „Ewiggestrige, in die Enge Getriebene, die versuchen, die Sonne abzuschießen. Du hast nur dein Schreien, du schreist noch, schreiiist. Schrei. Dieses beispiellose Massaker überleben nur die Hundesöhne.“ Vorgetragen wurde Liaos Gedicht auf Deutsch von einem Übersetzer. Er selbst hatte vor sich eine Art Altar aufgebaut: eine glänzende Schärpe, eine tibetische Klangschale mit Klöppel, eine weitere kleine Schale mit Mörser, eine Flöte und einen Abakus.

Zu Beginn erlebten die Zuschauer seine eigene Performance. Weit mehr als die Laute des Klangzubehörs beeindruckten sein Raunen und Stöhnen, seine Schreie und sein Gebrüll. Eine „Todesfuge auf chinesisch“ nannte man diese Verse, als sie im Westen bekannt wurden: „Es ist der universal verständliche Schrei der gequälten chinesischen Kreatur im Würgegriff des Kommunismus.“

Tatsächlich nannte Liao Yiwu im Gespräch nach der Lesung Paul Celan als seinen bevorzugten europäischen Dichter, neben Alexander Solchenizyn als verehrten Schicksalsgenossen. Um dann auch Angela Merkel lobend zu erwähnen. „Die deutsche Kanzlerin mag ich, weil sie auf ihren Reisen nach China immer die Menschenrechte anspricht.“ Vor neun Jahren hat Liao der deutschen Kanzlerin noch aus China einen offenen Brief geschrieben. Wie schon im Jahr zuvor bei der Frankfurter Buchmesse, wo China als Gastland mit einer riesigen Delegation aufgetreten war, hatte er auch für die „lit.cologne“ keine Reiseerlaubnis erhalten. Jetzt bat er Angela Merkel um ihre Fürsprache: „Sie waren 35 Jahre alt, als die Berliner Mauer fiel. Im gleichen Jahr ereignete sich das Massaker auf dem Platz des Himmlichen Friedens.“ Er versprach, wenn sein Reisewunsch in Erfüllung ginge, wolle er China keinen weiteren Schaden zufügen, als die Wahrheit zu sagen. Die chinesischen Behörden lehnten ab, doch ein Jahr später gelang Liao die Flucht über Vietnam nach Deutschland.

Seinem Gastland ist Liao überaus dankbar. Im Haus der Universität beantwortete er höflich alle Fragen von Christoph auf der Horst, der das Studium Universale leitet und die Literaturzeitschrift „Text+Bild“ herausgibt. Immer wieder aber bringt er seine Zeit im Gefängnis zur Sprache und die Toten des Tianmen-Platzes: „Im Gefängnis wird man leicht vergessen. Dagegen schreibe ich seither an. Doch wichtiger ist mir, den Opfern des Massakers eine dauerhafte Stimme zu geben.“

Ein emblematisches Foto von damals zeigt einen jungen Mann, der mit nichts als zwei Plastiktüten bewaffnet auf die Panzer zugeht und sie zum Stehen bringt. Über die vielen Interviews, die er mit Zeugen geführt hat, glaubt Liao inzwischen zu wissen, wer jener junge Mann war. Über ihn gibt es in Dissidenten-Kreisen die merkwürdigsten Gerüchte: „Wir wissen nicht, wo er geblieben ist. Manche behaupten, er habe sich nach Libyen geflüchtet und dort als Revolutionär Gaddafi gestürzt.“

Mehr zu lachen als an dieser Stelle gab es aber nicht bei Yiwus Auftritt. Stattdessen am Schluss eine Prise Resignation. Als ein Zuhörer nach seinem Verhältnis zur chinesischen Science-Fiction-Literatur fragte, lautete die Antwort: Er kenne da einen Roman, dessen Handlung sich in Millionen von Jahren in China abspiele. Dort tauche immer noch und immer wieder ein Raum auf, in dem er selbst so viele traurige Stunden verbracht habe: ein Polizeirevier.

Langer, stehender Applaus für diesen unvergesslichen Besuch.

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