Konzert in der Tonhalle Das singende Orchester

Düsseldorf · Mark-Andreas Schlingensiepen dirigierte eine beeindruckende Aufführung von Luciano Berios extrem schwieriger Komposition "Coro" in der Tonhalle. Das Notabu-Ensemble harmonierte mit Kollegen aus Rotterdam und Amsterdam.

 Szene aus der Berio-Aufführung: Notabu- und Doelen-Ensemble mit Sängern der Cappella Amsterdam.

Szene aus der Berio-Aufführung: Notabu- und Doelen-Ensemble mit Sängern der Cappella Amsterdam.

Foto: Susanne Diesner

Bei zeitgenössischen Komponisten, die sich des Volkslieds bedienen, ist eigentlich Vorsicht geboten, denn der Kitschverdacht liegt gefährlich nahe. So wie etwa jüngst bei der Ruhrtriennale, als Heiner Goebbels slowenische Volkslieder anstimmen ließ und auf den Charme des Ursprünglichen setzte, was gründlich missriet.

Luciano Berio ist die Ausnahme dieser Regel. Denn der italienische Meister ging höchst subtil und analytisch mit volkstümlichem Material um, wie bei seinen "Folk Songs", die er seiner damaligen Gattin, der Avantgarde-Diva Cathy Berberian, in die Kehle schrieb. In der Tonhalle war es nun die junge niederländische Sopranistin Karin Strobos, die diese elf knapp gehaltenen Songs hinreißend interpretierte. Strobos besitzt einen biegsamen, gerundeten Sopran ohne jede Schärfe und kann virtuos ihre Stimme umschalten zu kehligen Naturtönen oder chansonartiger Direktheit à la Edith Piaf. Mark-Andreas Schlingensiepen am Pult der kleinen Abordnung aus dem Notabu- und dem Doelen-Ensemble Rotterdam ließ der Sängerin weitgehend freie Hand, was eine bezwingende Spontaneität zur Folge hatte.

Nach der Pause dann das eigentliche Ereignis des Abends, Luciano Berios nur äußerst selten zu hörendes Schlüsselwerk "Coro" für vierzig Sänger und Instrumentalisten. Bei "Coro" stützt Berio sich nicht mehr direkt auf Volksmusik-Zitate, wohl aber auf alte volkstümliche Texte, die aber nicht vollständig zitiert werden. Dazu mischt er Gedichte von Pablo Neruda, die im Angesicht des spanischen Bürgerkriegs entstanden waren, und Berio selbst vertonte sie für "Coro" vor dem Hintergrund des chilenischen Putsches gegen Allende. Die formidable Cappella Amsterdam hatte man noch von Stockhausens "Sonntag" aus "Licht" im letzten Jahr in Köln in hervorragender Erinnerung, aber was die Sänger hier leisteten, grenzte ans Mirakulöse. Denn sie müssen bei Berio allesamt Solistisches leisten, Einsätze im freien Fall aus dem Nichts erwischen und gleich darauf wieder zurücktreten in schwebend transparente Chorklänge. Das Besondere an "Coro" ist vor allem die außergewöhnliche Sitzordnung: Der Chor, oder besser gesagt, die Sänger sitzen jeweils einzeln neben einem Instrument, sie haben keinen Halt in ihrer Stimmgruppe.

Das Ergebnis ist ein in dieser Qualität und Dichte kaum gehörter Mischklang, eine Art singendes Orchester, das noch um etliches vielstimmiger klingt, als es tatsächlich ist. Ein rauschhafter, verwirrender, faszinierender Gesamtklang, den Schlingensiepen fest im Griff hatte. Großartig.

(RP)
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