Bejubelte Premiere beim Asphalt-Festival Eine Revue der Absonderlichkeiten

Düsseldorf · „Chinchilla Arschloch, waswas?“ ist der ungewöhnliche Titel eines ungewöhnlichen Theaterstücks. Es geht um die Tourette-Zwangsneurose. Jetzt feierte das Stück von „Rimini Protokoll“ beim Asphalt-Festival Premiere.

Szene aus "Chinchilla-Arschloch-waswas" der Gruppe Rimini-Protokoll.

Szene aus "Chinchilla-Arschloch-waswas" der Gruppe Rimini-Protokoll.

Foto: R. Schittko/Robert Schittko

Tourette und Theater, wie passt das zusammen? Helgard Haug von „Rimini Protokoll“ ist es gelungen, mit drei Männern ein leichtfüßiges und offenherziges Stück über ihre Zwangsneurose zu konzipieren. 2019 wurde „Chinchilla Arschloch, waswas?“ in Frankfurt uraufgeführt. Ein beachtlicher Erfolg. Jetzt gastierte das Tourette-Projekt an zwei Abenden beim Asphalt-Festival im Central.

Eine ausladende Sitzlandschaft, darüber ein überdimensionales Zentimetermaß mit den Ziffern 1 bis 28. Jede steht für eine Szene. Die Musikerin und Pianistin Barbara Morgenstern begrüßt das Publikum: „Wir geben dem Symptom eine Bühne, und der Bühne ein Symptom.“ Währenddessen hört man ein Schmatzen, Pfeifen, Knirschen, Schnalzen. Die Geräusche kommen von Benjamin Jürgens, der sich in Reihe 4 erhebt und seine Tics freimütig schildert: „Miauen wie eine Katze ist mein Markenzeichen.“ Berichtet er humorig plaudernd von Theaterbesuchen oder Straßenbahn-Fahrten, ahnt man die düstere Dimension von Tourette, die ihn zum Ausgegrenzten macht. So wenig wie er kann Christian Hempel seine Tics kontrollieren, ihm platzen unvermittelt Schimpfwörter und Schöpfungen wie „Fleischmütze“ heraus. „Fleischmütze!“ staunt Barbara Morgenstern, „das hatten wir noch nie.“

Tatsächlich verläuft jeder Abend anders. „Wir haben für eine bestimmte Zeit eine gemeinsame Zukunft vor uns“, sagt Christian Hempel. Ihre Begegnung mit dem Mediengestalter aus Lüneburg lieferte Regisseurin Helgard Haug die Idee zu diesem Stück. Er hatte Vorbehalte, wollte sich und dem Publikum das nicht zumuten. Dann traute er sich doch. Welch ein Glück. Natürlich ist das alles eine Gratwanderung. Eine Revue der Absonderlichkeiten, nicht frei von Voyeurismus. Christian Hempel spricht es aus: „Draußen bin ich eine Störung, hier werde ich zur Attraktion.“

Manche Szenen verheddern sich, geraten umständlich. Die meisten aber setzen etwas in einem frei und berühren. „Wenn ich Musik mache, hören die Tics auf“, sagt Benjamin Jürgens. Und wirklich, sein Song gelingt kraftvoll und ungestört. Der Frankfurter ist Altenpfleger in einer Klinik, Kollegen und Patienten hätten sich an ihn gewöhnt. „Manchmal stecken mir ältere Damen ein Bonbon zu, das helfe gegen den Schluckauf.“

Das Lachen darüber verstummt, als Christian Hempel von seinen Nachbarn berichtet, von juristischen Schritten wegen seiner Verbalattacken, von drohenden Zwangsgeldern und Zwangshaft. Dabei hebe er doch immer vorauseilend die Hand: „Tourette!“ Spät erscheint der dritte Protagonist, der Politiker Bijan Kaffenberger: „Meine Bühne ist der hessische Landtag!“ Er wiederholt seine erste dort gehaltene Rede in klarer Sprache. Seine Tics äußern sich nur motorisch.

Es erfordert Mut und Selbstbewusstsein, die auffällige Krankheit nicht zu verstecken, ohne sich dabei zur Schau zu stellen. Das Publikum belohnte diesen spannenden Ausflug in die sonderbare Welt des Tourette mit lang anhaltendem Applaus.

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