Bachs „Weihnachtsoratorium“ in Düsseldorf Hach, wie ist das flach!

Düsseldorf · Die Düsseldorfer Rheinoper zeigt Johann Sebastian Bachs „Weihnachtsoratorium“ in einer seltsamen Modernisierung. Auch musikalisch hat die Produktion bedenkliche Schwächen.

 Auf die Botschaft der Geburt reagieren die Leute im Düsseldorfer "Weihnachtsoratarium" unterschiedlich: Szene aus der Premiere.

Auf die Botschaft der Geburt reagieren die Leute im Düsseldorfer "Weihnachtsoratarium" unterschiedlich: Szene aus der Premiere.

Foto: SANDRA THEN/Rheinoper

Johann Sebastian Bach war ein sehr modern denkender Musiker, sogar einen doppelten Espresso hat er komponiert. In seinem „Weihnachtsoratorium“ gibt es die längste Arie seines gesamten Schaffens, ursprünglich stammt sie – wie die meisten Teile dieses Werks – aus einer weltlichen Kantate. „Schlafe, mein Liebster“ heißt diese Alt-Arie, sie dauert über neun Minuten, und bevor der Hörer in Morpheus‘ Armen entschlummert, lässt Bach gleich danach den Chor den Wecker läuten: „Ehre sei Gott in der Höhe“, eine hibbelige, virtuose Koloraturennummer. Ein Wimmelbild nach Noten. Sein doppelter Espresso.

Von solchen Kontrasten könnte eine szenische Version des Bachschen „Weihnachtsoratoriums“ leben, wie überhaupt Bach sein volkstümlichstes Werk abwechslungsreich mit immer neuem Personal ausgestattet hat. Tatsächlich ersteht in Elisabeth Stöpplers Inszenierung an der Düsseldorfer Rheinoper eine bewegte Welt: Bethlehem 2.0. Der Untertitel der Produktion lautet: „Szenen einer schlaflosen Nacht“. Es soll das Bethlehem, das Stuttgart oder das Irkutsk von heute sein.

Hier aber dringt ein junges Paar (in Umständen und purer Not) in eine bürgerliche Familienwelt ein, und die Schwangere entbindet in einer Sturzgeburt gleich auf dem Esstisch. Das ist ein Grund zum Feiern: „Jauchzet, frohlocket“. Bald erfasst die frohe Botschaft die Nachbarschaft, eine Alleinstehende, einen Arbeiter, einen Dandy und viele andere. Nicht alle sind euphorisch, mancher fällt in den Kastenzimmern der Drehbühne (Annika Haller), an dem Bartresen und auf einer ollen Matratze ins Sinnieren. Der Zimmermann Joseph ist der größte Zweifler. Der Atheist verhöhnt in seiner Arie „Großer Gott und starker König“ sowieso alle höheren Zusammenhänge. Die Frauen auf der Bühne neigen zu Weinkrämpfen und Nervenzusammenbrüchen. Und alsobald sieht man auf der Bühne eine Menge von goldenen Babypuppen. Eine wird im Mülleimer entsorgt.

Mit dem originalen Lukas-Evangelium, seinen beschaulichen Landschaften und seinem sagenumwobenen Personal hat das natürlich nichts zu tun, soll es auch nicht. Die neutestamentlichen Mitwirkenden kommen jetzt in verwandelter Gestalt zu uns. Ein Sanftmütiger in göttlicher Mission heißt nun „Der Andere“, streicht leise durch die Menge, singt jene „Schlafe“-Arie und berührt die Menschen so wirkungsvoll, dass sie gleich entrückt zu Boden sinken. Der Nahkontakt erinnert ein bisschen an den vulkanischen Nackengriff von „Enterprise“-Offizier Spock.

Die gesprochenen Texte stammen aus dem ersten Korintherbrief (ganz sicher), aus einer Bibelstunde in Neudettelsau (möglicherweise) und aus dem freikirchlichen „Gott TV“ (eventuell). Es ist das ganz große dialektische Theater, das sich die Lizenz zum Ausschlachten besorgt hat, und reicht bis hin zu Golgatha und Auferstehung. Es fehlen nur noch Friedrich Nietzsche, Jean-Paul Sartre und Ferdinand von Schirach. Hach, wie ist das flach!

Kein Stein bleibt hier auf dem anderen, leider wildern die Verantwortlichen auch in der Musik. Sie streichen oder amputieren Sätze oder deren Teile, Instrumente werden abgezogen und Gesangspartien neuen Stimmgruppen zugeordnet. Generalmusikdirektor Axel Kober verhetzt etliche Arien und Chorsätze, mit dem fatalen Ergebnis, dass die Sänger entweder wie angestochen reagieren und zu schnell werden oder vor lauter Stress nicht mehr nachkommen. Im Ernst: Es ist ein Desaster, die Balance stimmt fast nie, es wackelt ohne Ende, manchmal sind alle, wie man unter Profis nicht so oft sagt, heillos auseinander.

Im Graben herrschen trotzdem Gönnerstimmung und gute Laune. Den Düsseldorfer Symphonikern merkt man das Heiden- und Hirtenvergnügen an, dass sie diese Musik mal nicht im Rahmen einer außerdienstlichen vorweihnachtlichen Mugge, sondern regulär im Opernhaus spielen dürfen. Sie sind noch der zuverlässigste Part an diesem Abend. Famos Bassam Mussad an der Solo-Trompete, berührend die Echo-Arie mit der Oboistin Gisela Hellrung auf dem Hausdach; einen kuriosen, aber versöhnlichen Exkurs zu unbachischem Instrumentarium gibt es in der Arie „Nur ein Wink von seinen Händen“ mit Klarinette und Klavier.

Der Opernchor dagegen ist nun mal nicht der Rias-Kammerchor, und wenn Kober ihn durch „Ehre sei dir, Gott, gesungen“ prügelt (Eingangschor Kantate fünf), wird nicht mehr gesungen, sondern gehechelt. Die Choräle dagegen zelebriert Kober, als hole er sie mit Spezialhandschuhen aus dem Tabernakel. So historisch uninformiert haben wir unseren Opernchef noch nie erlebt.

Und die Sänger? Tja. Cornel Frey besitzt einen herrlichen Tenor, der allerdings in der Arie „Nun mögt ihr stolzen Feinde schrecken“ wegen Kobers Tempo aus jeder zweiten Kurve fliegt. Andrés Sulbaran stichelt die Zweiunddreißigstel-Noten der „Frohe Hirten“-Arie extrem geläufig, Anke Krabbe leiht der Echo-Arie Zartheit, Luke Stoker (Vater) und Jake Muffett (Student) haben feine Momente. Der schönste ist jene „Schlafe“-Arie. Wenn Countertenor Terry Wey diese neun Minuten Musik durchschreitet, das Herz der Musik und des (durchaus doppeldeutigen, nämlich mütterlichen und zugleich erotisch-anzüglichen) Textes trifft, seinen langen Atem und sein wundervolles Timbre für die Beseelung der Kunst einsetzt: Dann spricht Bach in seiner unverfälschten Erhabenheit.

Der Schluss ist dann massiv was für die Leute und ein einziges Bittgesuch: Jubeln Sie gleich im Anschluss! Alle Sänger treten an die Rampe und halten lustige Schilder mit populären Botschaften hoch: „Frohe Weihnacht“, „Ich liebe dich“, „Ich dich auch“ oder „All you need is coffee“. Sogar der Pianist darf sein Bekenntnis abgeben: „I love Bach“. Das bestreitet auch keiner. Trotzdem hätte der Thomaskantor von diesem Düsseldorfer Abend Reißaus genommen. Seinen Wortlaut kennen wir schon: „Allhier muß man in stetem Verdruß leben, als werde genöthiget werden mit des Höchsten Beystand meine Fortun anderweitig zu suchen.“

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