Rheinkirmes in Düsseldorf Der große Schwindel: rundum glücklich

Düsseldorf · Auf dem Karussel suchen Menschen den Kick im Schwindel. Beim Kreisen bekommen sie ein neues Gefühl für sich, ihren Körper – und die Wirklichkeit. Eine Kirmeserkundung in Düsseldorf.

 Für Kinder sind Karussels stets ein großer Spaß.

Für Kinder sind Karussels stets ein großer Spaß.

Foto: Staschik

Auf dem Karussel suchen Menschen den Kick im Schwindel. Beim Kreisen bekommen sie ein neues Gefühl für sich, ihren Körper — und die Wirklichkeit. Eine Kirmeserkundung in Düsseldorf.

Natürlich geht es darum, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Hinausgeschleudert zu werden aus dem Alltag, aus der Bodenständigkeit. Auf dem Kettenkarussell kann sich der Mensch in eines dieser Stühlchen setzen, die Hände um die kalten Ösen legen. Dann wird er angehoben, bis die Beine baumeln wie früher in der Kindheit, die Ketten straffen sich, der Schwung greift unter die Sitze, schiebt sie einfach davon. Alle Kontrolle kann man dann fahren lassen, sich in den Wind lehnen, in die Dauerkurve, das Schnellerwerden. Irgendwann wird man den Kopf in den Nacken legen, in den Himmel blicken und das Abheben spüren, die Schwerelosigkeit am eisernen Band. Die Beschleunigung greift tief in die Magengrube, die Welt wird zum Rausch. Es geht dann nur noch ums Drehen, Leichtwerden, Davonfliegen. Darum, alle Gedanken zu verlieren und hineinzustürzen in den Strudel. Fliehkraft. Pures Jetzt und Hier.

Das Karussell ist das berauschendste Vergnügen, die größte Verlockung der Kirmes. Der Mensch gibt sich dem Schwindel hin, gibt für Augenblicke auf, wonach er sich sonst sehnt: Stabilität, Orientierung, Sicherheit. Auf dem Karussell versinkt er lustvoll in Panik, spürt das Herz klopfen, die Fliehkraft an den Eingeweiden ziehen. Im Innenohr wird sein Gleichgewichtssinn irritiert, eine zähe Flüssigkeit, die Endolymphe, geraten in Bewegung. Andere Sinnesorgane — Augen, Haut, Ohren — melden Überreizung. Für Sekunden ist der orientierungslose Kirmesbesucher dann nicht mehr denkendes Wesen, sondern ganz Gefühl. In Zeiten, da Menschen sich stets unter Kontrolle haben müssen, gesellschaftliche Rollen spielen, Funktionen erfüllen, Anforderungen genügen, ist das ein Moment totaler Freiheit.

Kirmes: Fahrgeschäfte für Jedermann
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Und totaler Subjektivität. Auf dem Karussell wird der Fahrgast ganz Körper — und das signalisiert ihm Wirklichkeit. "Der Körper ist für viele der letzte Garant, etwas Reales zu erleben", sagt der Soziologe Sacha Szabo, der seit vielen Jahren Rausch und Rummel erforscht. Das Gefühl für den eigenen Körper sei weitgehend aus der Wirklichkeit verdrängt, kaum werde noch körperlich geschuftet, viele Erlebnisse seien verlagert in die virtuelle Welt. "Das Karussellfahren ist eine Aufwertung von Körperlichkeit", so Szabo, "im Schwindel spüren wir unseren Körper, er wird zum Indikator der Wirklichkeit."

Kinder kann das noch zum Weinen bringen. Setzt man sie sehr früh in eines der Feuerwehrautos, schnittigen Mini-Cabrios oder eine barocke Kutsche, die auf den Kinderkarussellen rotieren, dann kullern oft die Tränen, wenn die Fahrt beginnt und Vater oder Mutter zurückbleiben. Kleinkinder wissen ja noch nicht, dass das Karussell eine wunderbar unnütze Bewegung in Gang setzt, dass sie genau an die Stelle zurückkehren, von der sie aufgebrochen sind.

Doch kaum sind sie drei oder vier Jahre alt, erkennen Kinder, dass jedes Karussell auch eine Bühne ist. Eine Kunstwelt, in der sie in Rollen schlüpfen können. Dann kreischen sie vor Vergnügen, wenn sie im Feuerwehrauto die Glocke läuten oder mit ernster Cowboy-Miene auf dem Pferd sitzen. "Kinder reagieren dann auch auf entsprechende Späße", erzählt Schausteller Bruno Schmelter, der in sechster Generation Karusselle betreibt und seine Fahrgeschäfte gerade auf der Oberkasseler Kirmes in Düsseldorf aufgebaut hat. "Habt ihr auch euren Führerschein dabei?, fragen wir zum Beispiel, dann ist das Gelächter immer groß." Doch dieses Zeitfenster ist kurz. Bald schon gehen Kinder nicht mehr ganz in ihrer Rolle auf. Mit sechs oder sieben Jahren sitzen sie unterfordert auf dem Kunsthengst, zerren am Zügel oder ziehen am Schweif. Sie wollen zeigen, dass sie über größere körperliche Fähigkeiten verfügen, sich nicht mehr krampfhaft an der Plastikmähne festkrallen müssen — dass sie der Kunstwelt Karussell entwachsen sind. Der Soziologe Erving Goffman nennt das "Rollendistanz" — der Heranwachsende beginnt zu reflektieren, wer er ist und was er darstellt. Von nun an ist das naive Vergnügen, das selige Aufgehen im Spiel dahin.

Außer das Abenteuer ist überwältigend. Auch Erwachsene können wieder in jenen unschuldigen Zustand geraten, da sie vollkommen in einem Erlebnis versinken, ganz und gar eins werden mit ihrer Umwelt. Doch muss ein Karussell dazu all seine Schleuderkraft aufbieten.

Darum werden die Fahrgeschäfte immer extremer, muten ihren Gästen immer stärkere Belastungen zu. Die Entwicklung begann etwa 1907, als die ersten Kettenkarusselle auf den Rummelplätzen auftauchten und das Hinausschwingen zum eigentlichen Kick des Fahrerlebnisses wurde. Später kam die Höhe als Reiz hinzu. Darum stehen auf großen Kirmesplätzen wie derzeit in Düsseldorf Kettenkarusselle, die viele Meter in die Höhe fahren. Oder "Breakdancer" mit zusätzlichen Drehachsen, auf denen die Fahrgäste in wechselnder Richtung geschleudert werden. Die Fahrt wird so unkalkulierbarer, abenteuerlicher.

Und wenn auch manchem Gast schlecht wird auf solchen Apparaten, das intensive Körpererleben versetzt in einen Rausch, ermöglicht die totale Ich-Überschreitung, das Aufgehen im Erlebnis, das vollkommene Einswerden mit der Welt. Ein paradiesischer Moment. "Flow" sagen die Soziologen. Die Kirmes ist ein guter Ort dafür, denn auf dem Rummelplatz ist der Mensch auch im Rausch der Beschleunigung nie allein. Es gibt die anderen Fahrgäste. Es gibt den Rekommandeur, der ausruft, dass es jetzt "rück-rück-rückwärts" weitergeht. Die Stimme schafft Vertrauen. Der Rekommandeur sei eine Art Schamane, sagt Szabo, einer der ein Ritual leite, strukturiere und zur Not auch anhalten könne, wenn es doch zu wild wird.

Der Rausch auf dem Karussell ist auch deswegen nur gespielt bedrohlich, weil unten immer noch die Freunde warten, der Selbstverlust während der Fahrt ist nur vorübergehend. Auch wenn einer auf dem "Breakdancer", der "Krake" oder im freien Fall am Turm aus voller Kehle schreit, nehmen ihn die anderen wieder in Empfang, klopfen ihm auf die Schulter, zeigen ihm, dass die Welt, die für ein paar Sekunden aus allen Fugen geraten war, immer noch die alte, feste, sichere ist. Dass die Mutprobe bestanden wurde. Weil das Karussell den Ausnahmezustand für Augenblicke liefert, ist es auch ein guter Ort für die Liebe. Und der beste ist die Berg- und Talbahn.

Diese Fahrgeschäfte sind bereits in den 1880er Jahren entstanden, als es jungen Männern noch nahezu unmöglich war, sich dem Mädchen, das sie liebten, vor der Hochzeit zu nähern. In den Berg- und Talbahnen, später den Raupenbahnen, die durch ein Verdeck geschlossen werden können, drückt die Fliehkraft die Menschen aneinander. So wird das Karussell zu einem Raum der Intimität — und kann einen ganz anderen Rausch beflügeln. Und nach der Fahrt gibt es dann Lebkuchenherzen, Liebesperlen und Paradiesäpfel.

Heute versuchen Menschen vor allem am Computer, sich in gespielte Abenteuer zu versenken. Viele macht das einsam. Das Karussell ist eine Maschine, die beim Gemeinschaftserleben eines Volksfestes Vergnügen produziert. Welch ein Verlust, wenn das aus der Mode käme.

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