Familiengeheimnisse Kalenderprojekt gibt Kindern aus Düsseldorfer Suchtfamilien eine Chance

Düsseldorf · Die 15-jährige Lena war verzweifelt, weil ihre alleinerziehende Mutter Alkoholikerin ist. Das Caritas-Projekt „Familiengeheimnisse“, das bis zu 500 Heranwachsende im Jahr erreicht, kann ihr und anderen helfen.

 Tanja Eckers (l.) und Melanie Pohl mit dem Adventskalender „Familiengeheimnisse“. Ihr Projekt hilft Kindern, deren Eltern krank sind.

Tanja Eckers (l.) und Melanie Pohl mit dem Adventskalender „Familiengeheimnisse“. Ihr Projekt hilft Kindern, deren Eltern krank sind.

Foto: Hans-Juergen Bauer (hjba)

Lena, die eigentlich anders heißt, hat ein Geheimnis. Sie teilt es mit ihrer jüngeren Schwester und letztlich auch mit ihrer Mutter. Doch dieses Familiengeheimnis ist dunkel. Und die 15-jährige Lena möchte nicht, dass ihre Mitschüler oder die Nachbarn davon erfahren. Aber dieses Geheimnis liegt wie ein mächtiger Schatten über ihr und auf allem, was sie tut: Ihre Mutter ist alleinerziehend, sie trinkt und ist alkoholkrank. Wenn Lena aus der Schule kommt, liegt sie oft auf der Couch, betrunken, nicht in der Lage, sich um die beiden Töchter zu kümmern. Lena schämt sich für dieses Familienleben. So sehr, dass sie nie Freundinnen mit nach Hause bringt.

Dass Lena heute überhaupt über ihr Leben mit der Erkrankung ihrer Mutter sprechen kann, liegt an einem Projekt, das die Fachstelle für Beratung, Therapie und Suchtprävention des Caritasverbands seit 2010 Düsseldorfer Schulen als Material für den Unterricht oder AGs anbietet. Es heißt „Adventskalender Familiengeheimnisse“. An jedem Schultag im Dezember öffnen Lehrer und Heranwachsende zusammen eines der Türchen. Dahinter offenbart sich je ein Detail der Geschichte der erfundenen 14-jährigen Schülerin Sarah, die eine 8. Klasse besucht.

An Tag 1 scheint noch alles in Ordnung. Die 14-Jährige und ihre beiden jüngeren Geschwister freuen sich auf Weihnachten, auf das Fest in der Familie, aber sie haben bereits eine dunkle Ahnung. Von Türchen zu Türchen entwickelt sich eine Familiengeschichte, die sich immer weiter entfernt von freudigen und besinnlichen Vorweihnachtstagen. Am Ende gibt es Zank und Streit zwischen den Eltern, weil die Mutter mal wieder morgens die Weinflasche geöffnet hat. Die Familie, die nach außen hin intakt erscheint, zerbricht Stück für Stück. Sarah muss Aufgaben übernehmen, die die Mutter einfach liegen lässt, macht den jüngeren Geschwistern das Frühstück. Aber die 14-Jährige ist gestresst und mit dieser Rolle natürlich überfordert, und ihr kleiner Bruder prügelt sich immer öfter aus scheinbar nichtigen Anlässen.

Die beiden Sozialpädagoginnen Melanie Pohl und Tanja Eckers entwickelten das Projekt, informieren die Lehrer und, wenn es sie gibt, die schulpsychologische Fachkraft über das Ziel. Heranwachsende sollen so erst einmal nur erfahren, welche Hilfsangebote es in Düsseldorf gibt. „Türöffner“ nennen Pohl und Eckers ihr Projekt deshalb auch. So könnten Hilfesuchende an die 18 Netzwerkpartner von verschiedenen Trägern weitergeleitet werden, die diesen Kalender unterstützen. Rund 500 Düsseldorfer Jugendliche erreichen sie so pro Jahr. Rein statistisch leben davon 60 in einer Familie, in der ein Elternteil alkoholerkrank ist.

Es gibt natürlich Schulklassen, sagen die beiden Sozialpädagoginnen, da erkenne sich kein Kind, kein Jugendlicher in Sarah wieder. Und es gibt andere. In einer solchen war Lena. Sie fasste den Mut und suchte nach Hilfe, wie es in dem Kalender auch Sarah am Ende getan hat. Melanie Pohl und Tanja Eckers lernten so Lena kennen. Es war eine schwierige Begegnung. „Viele Kinder glauben, nur ihre Familie habe dieses Problem“, sagt Pohl. Das sei nachvollziehbar. Alkohol in der Familie, das sei ein Tabuthema, werde verschwiegen. Und oft fühlten sich die Kinder auch noch schuldig, weil sie ihre Eltern ja gewissermaßen anschwärzten. „Mama darf es nicht erfahren“, war eine der ersten Aussagen Lenas. Am Ende erfuhr die Mutter es doch. Pohl und Eckers trafen die Frau, wollten mit ihr sprechen, vielleicht nach Lösungen suchen. Aber die Mutter konnte kein Problem erkennen. Ja, sie trinke schon mal was, aber eine Alkoholikerin sei sie nicht. Die Expertinnen kennen diese Mechanismen: abwiegeln, leugnen, kleinreden. Nein, sagt Melanie Pohl, Lena hat sich da nichts eingebildet. Alkoholismus zerstört Familien. Und eine trinkende Mutter sei besonders belastend.

Aber kann eine Geschichte wie die von Lena ein glückliches Ende nehmen? Auf Dauer schon, meinen Pohl und Eckers. Die 15-Jährige suche heute regelmäßig Hilfsangebote auf, sie wisse nun, dass sie mit dem Problem nicht alleingelassen werde ­ und dass es einen Ausweg aus der Sucht gibt.

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