Packende Premiere am Schauspielhaus „Iwanow“ - ein zeitloses Drama

Düsseldorf · Mit ihrer Inszenierung von Anton Tschechows frühem Stück gelingt Intendantin Amélie Niermeyer eine packende Realisierung des sozialpsychologischen Stoffes. Große Schauspielkunst im Düsseldorfer Theater.

 Spielt eine der Hauptrollen: Christiane Paul.

Spielt eine der Hauptrollen: Christiane Paul.

Foto: AFP, AFP

Dieser Mann könnte auch Herr Nachbar sein. Ein Durchschnittstyp, etwa 40 Jahre alt. Groß, gut aussehend, fünf Jahre verheiratet. Seine Frau bildhübsch, aber schwerkrank. Das Ehepaar ist kinderlos und hoch verschuldet. Wen wundert es, dass dieser einst so enthusiastische Mann in Depressionen gefallen ist? Anfallsartig durchlebt er ärgste Selbstzweifel. Er hat sein Leben aus dem Blick verloren, weiß nicht mehr, was er denken und fühlen soll. Das Leben ekelt ihn. Er benimmt sich wie ein Charakterschwein. "Es gibt mich nicht mehr", sagt er, "ich bin die Hauptperson in einem Stück, das um nichts mehr geht."

Das Stück heißt "Iwanow" und wurde vor mehr als 120 Jahren uraufgeführt. Jetzt erlebte es in der behutsam modernisierten Neuübersetzung von Alexander Nitzberg seine Uraufführung am Düsseldorfer Schauspielhaus. Destilliert aus den Umständen der Zeit, ohne Birkenwald und Samowar-Geplauder, setzt es Regisseurin Amélie Niermeyer auf eine nahezu leer gefegte Bühne. Sie baut aus dem Personal eine universelle Gesellschaft zusammen, die keine spezifischen Zeitaussagen macht.

Diese gelangweilten Menschen könnten so auch heute agieren, in Russland, Deutschland oder anderswo. Sie könnten sich verletzen, sich begehren, anöden, denunzieren und feinmaschig ihre Strippen ziehen. Denn sie alle haben eines gemeinsam: Sie haben den Sinn des Lebens verloren.

Männer und Frauen leben in ganz unterschiedlichen Welten: Iwanow hat vor allem zu tun mit dem mittellosen Grafen (Matthias Leja), dem jungen Landarzt (Felix Klare), der seine Frau behandelt, und mit dem verruchten Gutsverwalter Mischa, der Kuppler sein will um des Geldes wegen. Iwanows Gattin Anna, eine geborene Jüdin, die seinetwegen dem Glauben und dem Elternhaus abgeschworen hat, steht als kranke Frau alleine in der Welt, den Tod erwartend.

Die andere, wohlbetuchte Seite der Gesellschaft ist geprägt durch Familie Lebedew: Schwerreich sind die und geizig, die Frauen geben hier den Ton an und halten das Geld zusammen; eine junge reiche Witwe lebt bei ihnen, und Tochter Schura (Nadine Geyersbach) wird Iwanow seine Liebe erklären. Familienoberhaupt Pawel Lebedew (Michael Abendroth) trinkt so nachhaltig, dass er als einziger menschliche Regungen zeigen kann.

Eine Gesellschaft inszeniert sich. Langeweile ist das lähmende Moment. Abrupt unterbrochen werden ihre Spielchen von persönlichen Offenbarungseiden. Iwanow vor allem und seine Frau Anna geben ihr Innerstes preis: Wir haben alles falsch gemacht. Wörtlich: "Ich glaube, das Schicksal hat mich übers Ohr gehauen." Oder einfach nur: "Ich glaube, die Umstände sind das Kreuz."

Geschickt hat das Regieteam die Bühne bestückt. Nahezu leer ist das breite Podest, immerzu sitzen alle Darsteller rundherum im Off. Die Spieler möblieren ihre Räume selber mit rollenden Sesseln, Licht und mit einem raumhohen grünen Vorhang, der die Szene verhüllen, also abstrahieren, oder enttarnen, also preisgeben kann. Das von opulenter Klaviermusik unterlegte Spiel spitzt sich mitunter extrem zu. Da steht Herzenskälte im Raum, wenn Iwanow seiner Anna sagt, dass sie stirbt, sie hart am Hals anfasst und nicht mehr auf den Mund küssen kann. Verführung ist ein gefährliches Spiel - das zeigt Schura, die Iwanow um den Finger wickelt, bis er auf ihr liegt und Anna eintritt. Geiz ist eine Todsünde - wie er die Menschen hässlich macht, spiegelt Mutter Lebedew (Gabriele Köstler). Boshaftigkeit ist Mischas Metier - Markus Scheumann beherrscht dies in ungeahnten Steigerungen. Hysterie spielt selten jemand so schrill wie Witwe Babakina (Claudia Hübbecker) aus. Diese Momente hat Niermeyer eindringlich inszeniert. Noch stärker sind die Soli von Iwanow und Anna. Götz Schulte ist ein dramatischer Iwanow, Christiane Paul eine Frau, faszinierend fern, wie aus Porzellan. Beide sterben.

Ein umjubeltes Stück vom Sterben zu Lebzeiten.

(RP)
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