Portrait Wolfgang Dauer In einem Land neben unserer Zeit

Düsseldorf · Der Rentner und Überlebenskünstler Wolfgang Dauer hat an der Langenberger Straße über Jahrzehnte eine Welt errichtet, die so ist wie er selbst: einzigartig und deshalb nicht für jeden geeignet.

Die bunte Welt des Überlebenskünstlers Wolfgang Dauer
8 Bilder

Die bunte Welt des Überlebenskünstlers Wolfgang Dauer

8 Bilder

Gleich mal die Geschichte erzählen, wie Wolfgang Dauer seine dritte Frau Heidi heiraten wollte und zu wenig Kleingeld hatte. Dezember 2009. Sie hat sich hübsch gemacht, Dauer trägt Pantoffeln. Die Standesbeamtin fragt, ob sie wirklich heiraten wollen, und Heidi hat das Gefühl, dass sie das nicht jeden fragt. Natürlich wollen sie heiraten. Dann möchte die Standesbeamtin das Geld für die zwei Hochzeitsurkunden haben. Dauer hat Kleingeld mitgebracht, einen ganzen Eimer voll. Die Beamtin zählt nach, es fehlt ein Euro. Was nun? Sich einen Euro bei der Standesbeamtin leihen? Passanten fragen? Dauer entscheidet sich für die aufwendigste Lösung: Zurück nach Hause, noch mehr Kleingeld holen, zurück und dann heiraten. Hochzeitsreise gibt es nicht, große Feier auch nicht. Sie trinken in einem Imbiss einen Piccolo, dann kehren sie nach Hause zurück. Zurück zur Langenberger Straße. Zurück zu den Tieren. Zurück in den Bus.

Die Langenberger Straße in Flingern-Süd gehört nicht gerade zu den schicksten Gegenden Düsseldorfs. Kfz-Werkstatt, Gebrauchtwagenhändler, ein Paintball-Shop, eine Disco, die früher "Tor 3" hieß. Am Ende der Straße, gegenüber einem Taxi-Unternehmen, stehen ein roter Doppeldeckerbus und eine Imbissbude. Dort beginnt das Reich von Wolfgang Dauer. Dauer, Jahrgang 1943, Rentner, nach eigenen Angaben Überlebenskünstler, wohnt in einer Welt, von der man nicht glaubt, dass es sie gibt, wenn einem jemand davon erzählt. Und wenn man selbst dort war, glaubt man es auch nicht.

Man kann Dauer morgens auf seinem Stuhl sitzen sehen an einem Plastiktisch, draußen vor seiner Bude. Auf dem Tisch stehen Knäckebrot, Quark, Tee, ein Energy-Getränk und eingelegte Jalapeños. Er sitzt dort auch im Winter. Den Reißverschluss seiner Handwerkerjacke hat er nicht mal bis nach oben gezogen, darunter zeichnet sich ein Bauch ab. Trotz des Vollbarts könnte Dauer als 60-Jähriger durchgehen. Vielleicht liegt das an seinen wachen Augen oder an seinen geröteten Wangen oder an seiner gar nicht brummbärigen Stimme, die manchmal in ein Kieksen übergeht. Wenn er dort sitzt, streift vermutlich wieder eine seiner Katzen um seine Beine, zwölf bis 15 hat er, so genau weiß er das selbst nicht. Eine von ihnen war mal groß in der Zeitung, weil ihr Auge entzündet war und eine Tierärztin mit dem Namen Dr. Knopf ihr einen Knopf über das Auge genäht hatte, damit die Entzündung abklang. Im Kühlschrank hinter ihm liegen nicht nur Dosen mit Katzenfutter, sondern auch Motorradzeitschriften. Außerdem hat er einen Mischlingshund namens Teddybär, einen Ganter namens Duck und zwei Hasen. Ganter und Hasen hält er nicht, damit sie irgendwann im Ofen landen, sondern falls mal Kinder kommen.

 Wohnen in einem Backsteinhaus kann ja jeder. Die Dauers hingegen übernachten in einem Doppeldeckerbus.

Wohnen in einem Backsteinhaus kann ja jeder. Die Dauers hingegen übernachten in einem Doppeldeckerbus.

Foto: Endermann, Andreas (end)

Es ist schwierig, die Welt zu beschreiben, in der Dauer lebt, weil man nicht weiß, wo man anfangen soll. Es sind 800 Quadratmeter, und auf jedem scheint etwas zu stehen oder zu liegen oder zu hängen. Es ist nicht dreckig, es ist nicht chaotisch, es ist bloß sehr viel. Und je näher man die Welt erkundet, desto größer wird bei vielen Menschen das Fragezeichen werden: Wie kann man denn hier wohnen?

Da ist zum Beispiel dieser rote Doppeldeckerbus, der nicht mehr ganz so rot ist wie früher. In der ersten Etage schläft das Ehepaar Dauer. Ein Doppelbett steht dort, ein Fernseher, ein Schminktisch, ein Globus, eine Heizung, noch eine Heizung, Katzenfiguren, Sektflaschen, Putzmittel. Auf dem Boden liegt ein Tigerfell aus Stoff. An der Wand hängt eine Lichterkette mit roten Herzen, die einmal um den Raum herumführt. Den Bus hat Dauer Anfang der 90er an einer Tankstelle in Rath gesehen und für 15 000 D-Mark gekauft. Zuerst richtete er dort seine Imbissbude ein, den "Liverpooler Stehgrill", weil das so raue Assoziationen mit sich bringt. Seine damalige Freundin Ulrike gab die Kellnerin. Weil ihr aber die Männer ständig unter den Rock guckten und sie kniffen, als sie die Treppe hochging, zog er mit dem Imbiss in den Container um, in dem er heute noch ist. Sagt Dauer. Den Container holte er vom Südfriedhof. Früher wurde darin Obst verkauft.

Auf dem ganzen Gelände hängen zwar Schilder, die auf den Imbiss verweisen, und doch ist er schwer zu finden, weil auch dort sehr viel herumsteht. Drinnen wird es gleich gemütlich und warm. Ein Tisch, eine Bank, ein Gasofen, ein Fernseher, ein Kühlschrank mit Getränken, viele Figuren, Zeitschriften. Und Heidi, die in der Küche des Containers steht. Küche im Sinne von: Es gibt dort alles, was eine Imbissküche braucht, aber sie ist viel zu klein. Hier verkauft Heidi Currywurst, Frikadellen, Schnitzel, Eintöpfe und belegte Brötchen. Sie ist eine Frau von 56 Jahren, sie schminkt sich gerne so, dass es niemand übersieht. Viel zu tun hat sie meist nicht. Laufkundschaft gibt es nicht, an normalen Tagen kommen nicht mehr als zehn Gäste. Vielleicht ist das der Grund, weshalb Campino von den Toten Hosen hier häufiger sein Brötchen isst. "Wir kochen für uns selbst, und wenn jemand was möchte, bekommt er was", sagt Heidi. Der Fernseher läuft den ganzen Tag. RTL, WDR, Arte. Der Imbiss ist auch das Wohnzimmer der Dauers.

Rechts vom Imbisswagen und rechts von der Hütte mit dem Pissoir und links vom Sitzklo auf der anderen Seite, das Dauer in dem aufgerichteten Dach eines VW-Transporters untergebracht hat, dort also beginnt die Piratenbucht. "Piratenbucht der Freibeuter und Denker" steht auf einem Schild, das sich in einigen Metern Höhe über den Weg spannt. Es ist ein Gelände, das er von der Deutschen Bahn gepachtet hat. Abgesperrt ist es nicht, aber wer dort herumläuft, ohne etwas zu suchen zu haben, den fordert er auf zu gehen, wenn Heidi ihren Mann lange genug gebeten hat. "Gehen Sie bitte." "Warum?" "Weil wir hier keine Spitzbuben brauchen." Als erstes fallen die alten Schilder auf, die ihren eigentlichen Zweck nicht mehr erfüllen. "Flughafen" steht darauf oder "Arbeitsamt Düsseldorf Kindergeldkasse 150 Meter". Dauer hat in der Piratenbucht einige Garagen und Hütten aufgebaut und mit seinem Gerümpel vollgestellt. Dort stehen auch ein zweiter Doppeldecker-Bus, ein Wohnwagen und ein Bauwagen, in dem einige Jahre ein Zuhälter lebte, mit dem Dauer befreundet war. In einer der Hütten steht ein Bett, es war vier Jahre Dauers Schlafzimmer, als er gerade keine Frau hatte. Es ist mindestens 15 Jahre her, dass er zuletzt in einer Wohnung gelebt hat. In der Tür ist unten ein Loch, vorm Bett steht Katzenfutter.

Früher parkten auf den Dächern der Garagen Trabis, die Dauer ebenso gesammelt hat wie VW-Transporter. Bis die Stadt vorbeikam und ihm Autos auf dem Dach verbot. Wegen der Statik. Die meisten hat er verkauft oder verschrottet, zwei stehen noch immer auf dem Gelände. Den einen will er gegen eine Palette Katzenfutter hergeben. Die Trabis gehören zu den wenigen Hinweisen, dass Dauer, obwohl er schon seit 65 Jahren in Düsseldorf wohnt, nicht in Düsseldorf geboren wurde.

Wer mit Dauer über seine Lebensgeschichte spricht, muss zwei Dinge beachten. Erstens: Dauer redet viel, und er antwortet nicht direkt auf die Frage, die ihm gestellt wurde, weil er ganz schnell die nächste Abbiegung nimmt. Zweitens: Was Dauer erzählt, klingt zwar stellenweise viel zu abenteuerlich, um wahr zu sein, aber er sagt: "Ich bin mehr für geradeaus als für die Lügerei." Was auch bedeutet, dass man besser nicht alles zitiert, was er sagt, weil es manchmal zu geradeaus ist. Wie er über manche Ausländer denkt, die zum Arbeiten nach Deutschland kommen, schreibt man besser so nicht auf. Und wie es ihm gelang, die Einbrecher im Paintball-Shop zu vertreiben, das erzählt man schon mal gar nicht.

Wolfgang Dauer verbrachte die ersten fünf Jahre seines Lebens in Sangerhausen, Sachsen-Anhalt. Dann folgen er und seine Mutter dem Vater, der in einem Abbruchunternehmen in Düsseldorf arbeitet. Der Junge hat Keuchhusten, seine Mutter wickelt ihn in einen Schal ein, damit die Grenzer ihn nicht hören. Zunächst wohnen sie in Rath in einer Kleingartenanlage, der Vater hat ein Häuschen gemietet. Von dort geht es in die nächste Kleingartenhütte nach Heerdt. Die Hütte ist etwas größer, eine Pumpe versorgt sie mit Wasser. Ein Maurer, der auf demselben Grundstück wohnt, geht mit der Axt auf Dauers Vater los. Der Vater nimmt ihm die Axt ab und verteidigt sich. Der Maurer stirbt, der Vater wird vor Gericht freigesprochen. Notwehr. Familie Dauer zieht weiter nach Wersten. Wieder Kleingarten, wieder Hütte. Sie sind zu sechst. Dauer hat zwei Brüder und eine Schwester. Der Vater baut eine zweite Hütte. Weil der Bauer, dem das Grundstück gehört, es eines Tages an die Kirche verschenkt, bleibt Familie Dauer auch dort nur vorübergehend.

Aber für Wolfgang Dauer ist es sowieso an der Zeit, endlich auszuziehen. Er fängt bei einem Dachdecker an. Einen Schulabschluss hat er nicht. In der dritten Klasse war für ihn Schluss. "Dann habe ich den Dreh nicht mehr gekriegt", sagt er. Seine Mutter habe gesagt: "Der Wolfgang ist Skorpion, den kann man in der Wüste aussetzen, und er findet trotzdem zurück." Er macht keine Lehre beim Dachdecker, er arbeitet dort einfach, bis seine Erfahrung jede Lehre übertrifft. 1000 Quadratmeter Dach konnte er pro Stunde zu lackieren, sagt er. Um drei Uhr morgens legt er los, eine Gehaltserhöhung teilt er mit dem Kollegen.

Dann lernt er seine erste Frau kennen, sie ziehen zusammen, bekommen drei Söhne. Dauer macht sich als Dachdecker selbstständig. 1980 fällt er vom Dach, aus zwölf Metern Höhe. Dreifacher Schädelbasisbruch. Als er aus dem Krankenhaus kommt, ist die Frau weg, die Kinder hat sie ihm dagelassen. Ihr weiteres Schicksal fasst Dauer so zusammen: "Die Frau hat sich totgesoffen." Er selbst schafft in seinen besten Zeiten 15 bis 20 Flaschen Bier. Die Kinder kommen erst mal ins Heim. Dauer holt sie später zurück, und weil das mit der Höhe nicht mehr so gut geht nach dem Sturz, verlegt er sich auf Isolierungen und Ausschachtungen. Ungefähr zu dieser Zeit stellt er seinen ersten Wohnwagen auf dem Gelände an der Langenberger Straße auf, aber mit den Jahreszahlen hat es Dauer nicht so. Er heiratet zum zweiten Mal, es kommt zur zweiten Scheidung.

Den Imbiss eröffnet er, nachdem er einem seiner Söhne das Unternehmen überlassen hat. Irgendwas muss er schließlich tun. Seine dritte Frau Heidi lernt Dauer 2007 kennen. Per Zeitungsanzeige sucht er jemanden, der ihm im Imbiss hilft. Heidi hat gerade ihren Job verloren, für Krankenkassen die Krankenhäuser abklappern. Heidi stellt sich bei Dauer vor, er stellt sie ein. Erst abends gesteht er ihr, dass er auch eine Freundin sucht. Er ist 14 Jahre älter. Vier Wochen besucht er sie in ihrer Wohnung an der Corneliusstraße. Als das Arbeitsamt sie zu einer Fortbildung schickt, räumt er ihre Wohnung aus und alles bei sich ein. Damit ist die Sache entschieden. Im Dezember 2009 heiraten sie.

Die Hochzeitsreise haben sie bis heute nicht nachgeholt, im Urlaub waren sie auch nie. "Ich wüsste gar nicht, was ich da mit ihm machen sollte", sagt Heidi. "Nimmt man sich dann an die Hand oder wie?" Die Piratenbucht ist eine Welt, die nicht nur groß genug für ihren Mann ist, sondern auch für sie. "Hier ist eben überall alles", sagt Heidi, und wenn sie etwas nicht wiederfinden, "dann wird es eben zum 101. Mal gekauft." Ist ja alles da, sogar ein Badezimmer, nur eben nicht alles in einem Gebäude. Es ist eine Welt ohne Internet, ohne Flachbildfernseher, ohne Zentralheizung. Die Gegenwart ist spurlos an diesem Ort vorbeigezogen.

Heidi findet es zwar nicht so gut, wenn ihr Mann mal wieder von einem Thema zum nächsten springt und erzählt und erzählt, aber wenn sie erst mal das Vertrauen gewonnen hat, dann holt auch Heidi die Geschichten raus. Wie sie zum Beispiel als 15-Jährige Zeitungen austrug und von einer Frau gebeten wurde, die Fenster zu putzen. Die Frau gab ihr danach 1000 DM, Heidis Mutter wollte das nicht glauben und ließ es sich von der Frau bestätigen. Heidi musste 500 DM an die Mutter abgeben für eine Waschmaschine, von ihrem Anteil kaufte sie sich Klamotten.

Die Arbeitsteilung ist klar im Hause Dauer. Sie kümmert sich um den Imbiss und den Haushalt, er um das, was so auf dem Gelände anfällt, besonders die Tiere. "Tiere sind mir lieber wie manche Menschen", sagt er. Einmal holte er sogar einen Keiler von sieben Wochen zu sich und erzog ihn wie einen Hund. Manchmal ging er mit dem Wildschwein, das er Bully nannte, wie die VW-Transporter, die er gesammelt hat, auch über die Kö spazieren. So gut erzogen war das Tier. Nach acht Jahren befand er, dass das Schwein auch mal was vom Leben haben müsse, und damit meinte er, dass es mal ein anderes Schwein besteigen solle, und setzte es in einem Wald aus. Er sah es nie wieder.

Wer einmal auf das Gelände an der Langenberger Straße kommt, wenn Dauer gerade nicht da ist, und sich dann ein wenig umschaut, vielleicht das Schild sieht mit der Aufschrift "Grenze für Nichtschwimmer" oder "Bitte Uferbewuchs nicht beschädigen" und einfach keine Frage auf die Antwort findet, wie man denn hier wohnen könne - und wenn dann in diesem Moment größten Kopfzerbrechens Wolfgang Dauer heranspaziert kommt und vielleicht den braunen Hut trägt, an dem er eine rote Plastikrose befestigt hat, und neben ihm läuft vielleicht der wohlerzogene Ganter Duck, dann wird diese Frage durch eine andere Frage beantwortet: Wo soll dieser Wolfgang Dauer denn sonst wohnen?

(jco)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort