Kündigung zurückgenommen Glückliches Ende im Milchtüten-Fall
Düsseldorf · Der Stahlhersteller Schmolz + Bickenbach hat die fristlose Kündigung gegen seinen Mitarbeiter Jan-Josef Philipp gestern überraschend zurückgenommen. Der 58-Jährige darf am 16. August wieder zur Arbeit kommen. Er soll eine Tüte Milch gestohlen haben.
Der Anruf kam um 8 Uhr am Freitagmorgen. Jan-Josef Philipp sah die Nummer der Personalabteilung seines ehemaligen Arbeitgebers Schmolz + Bickenbach im Display, nahm schüchtern das Gespräch entgegen und konnte an dessen Ende kaum glauben, was er gerade gehört hatte: Die Kündigung ist zurückgenommen! Am 16. August darf Jan-Josef Philipp wieder seinen Dienst als Glüher antreten. Das Unternehmen hat, so teilte es gestern offiziell mit, "nach umfassender Prüfung entschieden, die nach einem Diebstahl von Milch ausgesprochene Kündigung (...) in eine Abmahnung umzuwandeln".
"Ich bin total erleichtert", erklärte Philipp, als sich die erste Aufregung gelegt hatte. "Jetzt kann ich doch wieder ein bisschen ruhiger werden." Über drei Monate hatte er zu Hause gesessen und gegrübelt, was da nach über 30 Jahren Betriebszugehörigkeit im April geschehen war. Er war im Schichtdienst tätig, hatte gerade Pause in der Kantine gemacht, als ihn zwei seiner Vorgesetzten mit dem Vorwurf konfrontierten, er habe eine Milchtüte mit einem halben Liter Milch gestohlen. Was folgte, waren unangenehme Gespräche und die fristlose Kündigung.
Jedem Mitarbeiter stehen bei Schmolz + Bickenbach pro Arbeitstag, nicht pro Schicht, eine Milchtüte zu. Doch im Frühjahr wurden mehrere Diebstähle registriert. Jan-Josef Philipp geriet unter Verdacht, die beiden Vorgesetzten wurden angewiesen, ein Auge auf ihn zu werfen. Am 12. April glaubten sie, ihn bei einem Diebstahl beobachtet zu haben. Die angeblich gestohlene Milchtüte wurde allerdings nicht beim Beschuldigten gefunden.
In seiner Not wandte sich Philipp an den Betriebsrat, der die IG Metall einschaltete — und die wiederum die Rechtsschutzabteilung des DGB. Deren Anwalt Christian van Remmen mahnte im Gespräch mit der RP Anfang dieser Woche an, dass die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden müsse. Und hatte beim "Milchtüten-Fall" ein vergleichbares Bagatell-Delikt im Hinterkopf: den Fall "Emmely", der Kassiererin in einem Berliner Supermarkt, die Leergutbons im Wert von 1,30 Euro eingelöst hatte, die ihr nicht gehört hatten.
Ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) hatte im Juni zur Wiedereinstellung der langjährigen Mitarbeiterin geführt. Eine Frage der Interessenabwägung, wie Juristen es nennen. Dabei werden Betriebszugehörigkeit und Alter des Arbeitnehmers in Relation zum Delikt und dem möglichen Vertrauensverlust des Arbeitnehmers gesetzt.
Das Emmely-Urteil war auch ausschlaggebend für den Sinneswandel bei Schmolz + Bickenbach. "Als wir im April die Kündigung ausgesprochen haben, galt diese Rechtssprechung noch nicht", so Personalchef Peter Ophey." Vor dem Hintergrund des Emmely-Urteils wollten wir den Fall noch mal neu bewerten." Unabhängig von der Rücknahme der Kündigung in diesem Einzelfall, so Ophey weiter, gelte aber: "Wir werden auch in Zukunft Diebstähle aller Art ahnden."
Mit großer Freude wurde die Rücknahme der Kündigung auch bei der IG Metall in Düsseldorf aufgenommen. Geschäftsführer Nihat Öztürk begrüßte die "nachträgliche Korrektur einer falschen Entscheidung", bezeichnete sie als "Sieg der Vernunft". Es sei nicht angemessen und, rein rechtlich gesehen, nicht klug gewesen, für eine nicht bewiesene Unterstellung die Kündigung auszusprechen.
Die Gewerkschaft wird Philipp, wenn er es denn will, auch unterstützen, gegen die verbliebene Abmahnung vorzugehen und die durch die Kündigung verursachten finanziellen Einbußen zurückzubekommen. Für Philipp und seine Frau Gabriele zählt jetzt aber erst mal die gelungene Wiedereinstellung: "Wir sind sehr dankbar für die Hilfe, die wir bekommen haben. Allein hätten wir das nicht geschafft."