Geschichtsschreiber des Arbeiter-Samariter-Bunds Zu Besuch beim „Stehauf-Mädchen“

Düsseldorf · Geschichtsschreiber des Arbeiter-Samariter-Bundes erzählen das Leben älterer Düsseldorfer nach. Judith Haker und Edith Schneider-Fürchau haben sich regelmäßig getroffen, um die Biografie „Und dennoch! Sie blüht!“ zu verfassen.

Judith Haker (l.) und Edith Schneider-Fürchau haben sich ein halbes Jahr lang regelmäßig getroffen, um die Biografie zu verfassen.

Judith Haker (l.) und Edith Schneider-Fürchau haben sich ein halbes Jahr lang regelmäßig getroffen, um die Biografie zu verfassen.

Foto: Bretz, Andreas (abr)

„Geschichtsschreiber“ heißt das Projekt des Arbeiter-Samariter-Bundes Region Düsseldorf, für das seit 15 Jahren immer zwei zusammenkommen, um zu erzählen und um eben aufzuschreiben. So wie die 36-jährige Judith Haker und die 88-jährige Edith Schneider-Fürchau. Die Jüngere hört zu, was die Ältere zu berichten hat. Am Ende entsteht ein Buch. Das über Edith Schneider-Fürchau trägt den Titel „Und dennoch! Sie blüht!“, es ist die Chronik eines bewegten Lebens.

Über ein halbes Jahr haben sich die beiden Frauen zwei bis drei Mal pro Woche in der Wohnung der 88-Jährigen in Friedrichstadt getroffen. Denn sie hat viel zu erzählen, von einem Leben mit vielen Tiefschlägen, aber auch davon, wie sie es gemeistert hat. Wie viele aus ihrer Generation, prägen auch sie die Kriegserfahrungen. Da ist die Flucht aus Ostpreußen als Mädchen, die Mutter hochschwanger. Der Bruder kommt während der Strapazen zur Welt, er lebt aber nur wenige Tage. Sie strandet schließlich in der DDR, eckt an, weil sie als Christin und bekennende Pazifistin die Oberen für „ihren Militarismus“ kritisiert. Sie wird beäugt und flieht wieder. Das war 1955. Eine Reisebescheinigung für den Besuch der Großmutter im Westen erhält sie zwar, aber sie fährt nur mit einem Köfferchen für 14 Tage. Damit es glaubhaft wirkt. Sie kehrt nicht zurück.

Judith Haker nimmt alles zunächst mit ihrem Smartphone auf, bringt es zu Hause zu Papier, kehrt mit dem Manuskript zurück. Die 36-Jährige, leitende Angestellte beim Sender QVC, denkt da schon, wie normal und sicher ihr eigenes Leben heute eigentlich ist. Manchmal fällt Edith Schneider-Fürchau hinterher noch etwas ein. Sie begrüßt dann die Geschichtsschreiberin mit den Worten: „Ich habe da noch einen Nachtrag.“ Episode um Episode arbeiten die beiden Frauen das Leben von Edith Schneider-Fürchau ab. Es bleibt alles andere als gradlinig. Sie bekommt ein uneheliches Kind. In den 1950er-Jahren ist das im Nachkriegsdeutschland ein handfester Skandal. Die Mutter des viel zu jungen Vaters verhindert eine Hochzeit mit der „Dahergelaufenen“. Das Kind kommt zunächst in ein Heim. Später heiratet sie sogar, aber die Ehe, aus der noch eine Tochter hervorgeht, ist nicht glücklich. Er trinkt, macht Schulden. „1971 habe ich ihn herausgeschmissen.“ Fortan ist sie alleinerziehend und schafft es auch so, mit zwei Kindern, und obwohl es ihren erlernten Beruf der Schriftsetzerin irgendwann nicht mehr gibt.

Beeindruckt ist Judith Haker oft nach diesen Besuchen, davon, wie sich die heute 88-Jährige durchgekämpft hat. Und der Titel des Buches, den sich Edith Schneider-Fürchau selbst gewählt hat, bringt es gleich zum Ausdruck. Er zeigt auf dem Cover einen Gletscher-Hahnenfuß, eine besonders hochsteigende Pflanzenart in den Alpen. Sie gilt als zäh und robust. Die Alpen-Blumen sind Edith Schneider-Fürchaus Leidenschaft. Wegen ihres Hobbys lebt Edith Schneider-Fürchau 20 Jahre in Südtirol, bis sie 2016 einen Wirbelbruch erleidet und sie nach Düsseldorf zieht, wo ihre Tochter wohnt.

Die 88-Jährige kennt beide Seiten des Projekts. Sie selbst war mal die Geschichtsschreiberin vor ein paar Jahren, hat einer 94-Jährigen zugehört. Und ein Buch hatte sie auch schon geschrieben, weniger eine Biografie, vielmehr eine Art persönlicher Roman. „Stehauf-Mädchen. Reportage eines Frauenlebens“ heißt es. Sie sucht dafür einen Verlag, findet aber keinen. Judith Haker weiß von Beginn an von dem Buch, bekommt es aber erst hinterher zu lesen.

144 Seiten ist das Buch über das Leben von Edith Schneider-Fürchau lang geworden. Es gibt Erzählungen, die kürzer ausfallen, berichtet Judith Haker. Manchmal werden es lediglich 30 Seiten über einige Anekdoten, weil die Erzählenden nicht alles preisgeben möchten, weil sie es nicht so wichtig finden oder weil es alte Wunden aufreißt. Und manchmal gehe es auch nicht so sehr um die Lebensgeschichte, sondern darum, dass für eine gewisse Zeit jemand regelmäßig zu Besuch kommt. Judith Haker jedenfalls klingelt auch nach dem Buchprojekt noch regelmäßig bei dem „Stehauf-Mädchen“.

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