Weihnachtliche Erzählung vom Fernbusbahnhof Wenn sich die Zeit wie Kaugummi zieht

Düsseldorf · Vor Weihnachten ist die Zeit der Märchen, in der sich ein besinnlicher Blick auf Menschen und Dinge lohnt. Eine Zeit, in der sogar die Fernbushaltestelle am Worringer Platz lebendig wird, um von sich und den Reisenden zu erzählen. Unsere Autorin hat zugehört.

 Viel Trubel herrscht am Fernreise-Busbahnhof in der Vorweihnachtszeit.

Viel Trubel herrscht am Fernreise-Busbahnhof in der Vorweihnachtszeit.

Foto: Bretz, Andreas (abr)

„Überlasst euch dem, was vor euch liegt; was immer ihr dort finden werdet“, steht in Großbuchstaben an der Häuserfassade zwischen Hauptbahnhof und mir, der Fernbushaltestelle am Worringer Platz. Ja, ich bin mir bewusst: Ich bin vielen ein Dorn im Auge. Ich bin der Grund für Staus in der Stadt, trage Schuld an hohen Stickoxidwerten. Aber mal ganz ehrlich, das hätte man sich ja auch früher überlegen können. Mich gibt es schließlich erst seit neun Jahren.

1,5 Millionen Euro hat es gekostet, mich zu bauen. Das überrascht möglicherweise den ein oder anderen, der sich umschaut: Ein Platz. Ein paar Pappeln. Dönerladen. Spielhalle. Kiosk. Dönerladen. Mit Bildern von Dönern davor und brutzelnden Dönern hinter der Fensterscheibe. „Alles? Knoblauch oder scharf? Einpacken oder hier?“ Schnell muss es gehen, denn die meisten sind nicht gekommen, um zu bleiben. Doch ich habe Zeit. Kann den Menschen, die mich besuchen, zuhören und ihre Geschichte erzählen.

Beispielsweise die von Seethaa Subramaniyasivam (21). Sie sitzt schon eine Stunde an einer meiner Haltestellen, weil sie den Bus verpasst hat. Jetzt heißt es warten. Zeit kann sich beim Reisen mit dem Bus ziehen wie Kaugummi. Erst in sechs Stunden wird sie in Heilbronn ankommen. Für Subramaniyasivam ist das in Ordnung, denn für viele junge Menschen und all diejenigen, die sich eine teure Fahrt mit der Bahn, dem eigenen Auto oder dem Flugzeug nicht leisten können, ist der günstige Preis mein größter Pluspunkt.

Gegenüber kommen Laura Bads (27) und ihre drei Freundinnen aus Assen in den Niederlanden an. Sie sind zum Weihnachtsmarktbesuch hier. Das schicke Düsseldorf hatten sie jedoch eigentlich anders vorgestellt, gibt Bads zu. Schick ist es hier bei mir eben nicht. Dafür aber „echt“ – wie es Marcel Michel (26) findet. Er ist vom Elternbesuch auf dem Weg zurück nach Tübingen. Dort studiert er Biologie. Ich bin für ihn zwar nur eine Zwischenstation mit „Läden, die nicht wissen, wie man schön dekoriert“, aber immerhin, er schaut sich um:

Sieht die Menschen, wie die bettelnde Frau, umgeben von Tauben, die unwillkürlich an eine Szene aus dem Film Mary Poppins erinnert: Lauft nicht vorbei. „Nur 50 Cent.“ Sieht die genervte Lehrerin, die ihre Klasse wie eine Viehherde über das Pflaster jagt: „Schneller, schneller, schneller!“ Ja, er sieht all das, was die Menschen da oben im gläsernen Tunnel des Düsseldorfer Schauspielhauses Central nicht sehen (wollen?). In ihrem gläsernen Catwalk sind sie unterwegs zu Produktionen wie Brechts „Mann ist Mann“ oder Schillers „Don Karlos“, schreiten geschäftig voran. Bewegen sich hoch über der dreckigen Straße, in der sich bei Regen das Wasser knöcheltief in Pfützen sammelt. Bemerken nicht die 1000 grauen Kaugummis, die den Boden benetzen. Sie sind das Produkt der Langeweile beim Warten, ausgespuckt in Hektik beim Einsteigen. Kaugummis, die in einem verzweifelten Versuch gekaut wurden, um dem Busnachbarn den Zwiebelgeruch des Döners zu ersparen.

Doch noch ist es nicht Mittag, noch hat niemand Dönerhunger, noch müssen keine Kaugummis gekaut werden. Ein Lkw liefert gerade neue Döner an. Männer wuchten gefrorene Fleischkegel in einen Einkaufswagen. Schieben, stolpern – und erst ein, dann zwei Döner rollen über die Gleise der Straßenbahnlinie 704. Von alldem bekommt das Pärchen in der Nähe nichts mit. Sie umarmt ihn ein letztes Mal. Tränennasse Küsse, ein paar wischende Berührungen über Wangen. Dann die fauchende Hydraulik der Bustüren. Sie fährt nach Russland, er bleibt in Düsseldorf – Arbeiten. Wo, das will er nicht verraten. Wir kennen uns ja auch nicht.

Umso besser kenne ich meinen alten Bekannten David Stoklosa. Er ist quasi Nachbar im „Stan-Travel”-Reisebüro und verkauft Tickets zu Orten in ganz Europa. „Kosovo ab 60 Euro“, verkündet ein Plakat einer Busfirma. Weihnachtskugeln, Lichterketten über dem Schalter – Kräcker und Kaffee an der Bar. „Manchmal geht es hier auf dem Platz ganz schön chaotisch zu“, sagt Stoklosa. Aber ich habe eben nur acht Busparkplätze – hab ich mir nicht so ausgedacht, das war die Stadtplanung. Dafür hast du, Stoklosa, ja auch viel mit mir erlebt: Kannst inzwischen neben Deutsch, Englisch und Polnisch auch Serbo-Kroatisch sprechen. Wer kann das schon von sich behaupten?

Ich bin nicht besonders schön und schick. Ich bin manchmal chaotisch, aber ich bin echt und lebendig und vielseitig; ein Ort, an dem jeden Tag die unterschiedlichsten Nationalitäten aufeinander Tag treffen. Und wer dem Spruch vom Anfang folgt und sich dem überlässt, was vor ihm liegt, der findet bei mir zwischen umher wandelnden Tauben, kullernden Dönern und Abschiedstränen den Fleckenteppich aus Kaugummis. Es sind flüchtige und klebrige Hinterlassenschaften der Wartenden. Wie eine hingekritzelte Notiz auf dem Klassentisch, die „Ich war hier“ bedeutet. Doch wer sie im Gegenlicht der Wintersonne betrachtet, wer sich die Zeit nimmt hinzusehen, der wird sie funkeln sehen. Denn ein bisschen Glitzer zu Weihnachten, das kann ich auch.

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