Düsseldorf Ein Foto ist die einzige Spur

Düsseldorf · In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs verhilft ein französischer Kriegsgefangener einem deutschen Jungen zur Flucht vor den Russen. Jetzt sucht der Sohn des Franzosen den Deutschen. Ein Hinweis führt nach Düsseldorf.

Pierre Dubouilh hat einen Stoß vergilbter Dokumente und alter Fotos auf dem Küchentisch ausgebreitet. "Alles aus dem Nachlass meines Vaters", sagt der Franzose. Und dann zieht der 64-Jährige das Foto aus dem Stapel, auf dem alle seine Hoffnungen ruhen. "Diesen Mann suche ich", sagt er, "er muss in Düsseldorf gewesen sein".

Das Schwarzweißbild zeigt einen sauber gescheitelten jungen Mann in Lederjacke und gestreiftem Schlips. In der Hand ein Glas, daneben eine Schnapsflasche. Es könnte auf einer Familienfeier entstanden sein, auf einer Hochzeit. "Da, sehen Sie", sagt Dubouilh und dreht den Schnappschuss um. Auf der Rückseite kann man noch lesen: "Foto Joski 4933 Düsseldorf".

Armand Dubouilh kam ins Stalag

Heute, das hat Dubouilh ausgerechnet, muss dieser Mann wohl Ende 70 sein. Viel weiß er nicht über ihn. Nur, dass sein Vater, Armand, ihn als etwa Zwölfjährigen 1945 in Ostpreußen vor den anrückenden Rotarmisten versteckt hat. Dubouilh weiß auch, dass sein Vater mit dem jungen Deutschen, dem er in den letzten Tagen des Krieges vermutlich das Leben gerettet hatte, noch jahrelang in Briefkontakt stand.

1965 wurde er sogar zu seiner Hochzeit nach Deutschland eingeladen, aber im selben Jahr verstarb Armand Dubouilh. "Sie sind sich also nie wieder begegnet", sagt sein Sohn. Das lässt ihn nicht ruhen. Fast lückenlos hat er die Kriegserlebnisse seines Vaters recherchiert. Armand Dubouilh hatte im Mai/Juni als Angehöriger eines französischen Infanterie-Regiments bei Dünkirchen die hastige Evakuierung des britischen Expeditionskorps über den Ärmelkanal gedeckt.

Am 4. Juni 1940 wurde er von der Wehrmacht interniert und schließlich ins Kriegsgefangenenlager Stalag I-B im ostpreußischen Hohenstein (Olstynek) gebracht. Auf Bauernhöfen in der Umgebung wurde er zum schweren Arbeitsdienst eingesetzt, unter anderem auch in Urbansdorf, dem heutigen Jablonskie-Goldap.

Pierre Dubouilh kramt eine Handvoll Fotos hervor, die seinen Vater damals zeigen: mit einem Pferdefuhrwerk, vor einer Scheune, gemeinsam mit anderen französischen Kriegsgefangenen bei der Feldarbeit. Hier, in Urbansdorf, muss es wohl gewesen sein, dass sein Vater den deutschen Jungen versteckte.

Die Nachrichten von den Gräueltaten der vorrückenden Roten Armee an der deutschen Zivilbevölkerung hatten sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Irgendwie muss Armand Dubouilh dem Jungen dann zur Flucht nach Westen verholfen haben. Er selbst und seine französischen Kameraden wurden von den Russen noch eine Zeitlang festgehalten, bevor auch er am 16. August 1945 endlich in seine südwestfranzösische Heimatstadt Preignac bei Bordeaux zurückkehren konnte.

Pierre Dubouilh hat seinen Vater früh verloren; umso mehr möchte er heute den Menschen finden, dessen schicksalhafte Begegnung mit seinem Vater ihn so sehr beschäftigt. "Leider habe ich mit meiner Suche zu spät angefangen", bedauert er, "die Kameraden meines Vaters aus der Gefangenschaft in Ostpreußen waren schon alle nicht mehr am Leben".

Also beginnt er in Archiven zu stöbern, schreibt an Bürgermeisterämter, Einwohnermeldeämter und Konsulate in Deutschland und Polen. Er bittet um Hilfe bei seiner Suche. Aber viele Spuren hat der Krieg für immer verwischt.

"Es ist meine letzte Hoffnung"

Schließlich macht sich Pierre Dubouilh 2009 gemeinsam mit seiner Frau auf nach Polen. In der Kleinstadt Goldap stößt er tatsächlich auf eine alte Frau, die den Gesuchten zu kennen glaubt. Der Junge habe während des Krieges in ihrem Haus gewohnt, erzählt sie. Und sie nennt auch einen Nachnamen: "Bauer".

Zwei Jahre zuvor habe ihr der mysteriöse Deutsche, inzwischen ein alter Mann, sogar einen Besuch abgestattet. Er lebe heute in Nürnberg. Doch Pierre Dubouilhs Euphorie ist nur von kurzer Dauer. An der angegebenen Adresse in Nürnberg wohnt kein Herr Bauer. Alle Nachforschungen dort bleiben ergebnislos. Am Ende bleibt ihm wieder nur das Foto eines jungen Mannes als einzige Spur.

Das Bild, schätzt er, ist um 1965 entstanden. Und er vermutet, dass es im Raum Düsseldorf gemacht wurde und möglicherweise auf der Hochzeitsfeier des Gesuchten aufgenommen wurde. "Ich hoffe immer noch auf ein glückliches Ende dieser Geschichte", sagt er. Aber er ist nach all den Jahren der Suche auch Realist. Dass irgendjemand in Düsseldorf den jungen Mann wiedererkennen könnte, "ist mein letzte Hoffnung".

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