Barpianist aus Düsseldorf Bei Vito tanzen Paare Wange an Wange

Düsseldorf · In Szenelokalen wie Tino’s Bar an der Kö oder dem Restaurant Riva im Medienhafen unterhält Vito Giaquinto seit Jahren die Gäste. Ein Abend mit dem Barpianisten, der selbst die unterkühltesten Paare zum Tanzen bringt.

  Bar-Pianist Vito Giaquinto. Foto: Anne Orthen

Bar-Pianist Vito Giaquinto. Foto: Anne Orthen

Foto: Anne Orthen (ort)

Um zwei Minuten nach neun schwingt sich Vito Giaquinto auf seinen Klavierhocker, schiebt die Regler am Mischpult nach oben, rückt das Mikrofon zurecht und klimpert am Flügel noch ein paar Töne des Popsongs mit, der gerade über die Anlage in Tino’s Bar läuft. Dann dreht David, der Kellner, die Musik langsam ab und Vito sagt ins Mikrofon: „Guten Abend!“

Das Publikum applaudiert – bis auf die beiden auffällig geschminkten jungen Frauen, die mit ihren Cocktails direkt in der Nähe des Flügels Platz genommen haben. Sie scrollen weiter über die Bildschirme ihrer Handys.

„Es gibt Abende, an denen wollen die Leute nichts von dir wissen“, sagt Vito. „egal, was du tust.“ Aber an den guten Abenden, da hören ihm alle zu, singen mit, feiern mit ihm. „Wenn ich dann fertig bin, bin ich halbtot.“ Deswegen spielt er auch lieber in Bars als Restaurants. Gute Abende sind intensiv, aber kurz. Um ein Uhr ist alles vorbei.

Als Vito jung war, hatte er einen Knabensopran. „Dolce bianco“, sagt er, „falsetto. Ich habe mal für Wojtyła gesungen.“ Er meint Karol Wojtyła, besser bekannt als Papst Johannes Paul II. Vito war damals 16 Jahre alt und Solist des Kirchenchors in Ravenna. Heute singt er Bariton und kann seine Stimme samtig-weich klingen lassen wie die von Bing Crosby, oder rau wie die von Paolo Conte bei „Via Con Me“, dieses italienische Stück mit dem Refrain, den jeder mitsingen kann: „S’wonderful, s’wonderful, s’wonderful, good luck, my baby...“

Mehrere Paare sind an diesem Abend in Tino’s Bar, die meisten über vierzig oder sogar deutlich älter. Eins isst zu Abend; eins schaut gemeinsam aus dem Fenster auf die Kö-Passanten; eins küsst sich minutenlang. Ein Mann hat sich zur Bühne gedreht und starrt Vito unverwandt an. Seine Frau sitzt daneben und schaut ins Nichts. Am Tisch ganz hinten rechts findet ein Familientreffen statt. Vorne sitzt ein halbes Dutzend junger Arbeitskollegen, unter ihnen eine hübsche dunkelhaarige junge Frau, die Vito nicht aus den Augen lässt. Sie lächelt immer wieder selig.

Vito zieht schnell sein Jackett aus, legt es ordentlich über den Stuhl hinter sich und spielt dann „Bella Ciao“, das alte italienische Partisanenlied. Im Refrain setzt er aus, damit das Publikum mitsingen kann. Es klappt nicht so recht – es ist zu früh.

Oben auf dem Flügel steht Vitos Keyboard. Es ist sein Schlagzeug, sein Bass, seine E-Gitarre, sein Saxofon, seine Blaskapelle, seine Bigband, sein Programmheft und sein Liederbuch. Gewandt wechselt er zwischen den beiden Tastaturen. „Ich bin kein guter Pianist“, sagt er, „auch kein guter Sänger, aber ich bin ein sehr guter Barpianist und -sänger.“

Wie er Klavierspielen gelernt hat, ist ein Rätsel, das er nicht auflöst. Als er sieben Jahre alt war, schenkten seine Eltern ihm ein Akkordeon. Es war so groß, dass er die Tasten nicht sehen konnte, wenn er es umschnallte. „Ich musste vor einem Spiegel üben.“ Dieses Experiment dauerte zwei Monate, dann hatte Vito die Nase voll und ging wieder mit seinen Freunden spielen. Mit zwölf bekam er dann ein Keyboard. Auf wundersame Weise lernte er, es zu bedienen, gründete mehrere Bands, schrieb Songs und gewann sogar mal einen Musikwettbewerb im italienischen Fernsehen.

Seinem Vater hätte er es aber nicht antun können, Profi-Musiker zu werden, sagt er. Er studierte Elektronik und machte anschließend ein Restaurant auf, am Meer. Dann kam ein Pub dazu. Beides betrieb er mit seinen Eltern. Bis er nicht mehr konnte. „Ich hatte die Nase voll“, erzählt er. „Ich habe die Koffer gepackt und bin in die Schweiz gefahren.“ Das war 1991. Als Musiker tingelte er durch die Hotels und Bars. „Und ich wusste: Barsänger. Das ist mein Job.“

Vito spielt jetzt „Besame mucho“. Beim Singen schaut er manchmal aus dem Fenster auf die Kö. Er registriert genau, wer hereinkommt. Wer mit wem unterwegs ist. Welcher Mann heute eine andere Frau dabei hat als beim letzten Mal. „Ich höre alles“, sagt er. „Alles, was die Menschen in meiner Nähe sprechen, während ich spiele. Aber keine Sorge. Es bleibt alles bei mir.“ Die beiden Damen am Flügel sprechen nicht. Eine filmt ihn beim Singen. Der Kellner taucht auf und serviert ihnen noch einen Cocktail. Als er wieder davongleitet, sind im Trinkgeldglas auf dem Flügel zwei Zehn-Euro-Scheine aufgetaucht. „Dankeschön, grazie, muchas gracias“, sagt Vito, als er das Stück beendet hat.

Er habe im vergangenen Jahr 265 Tage gearbeitet, erzählt er. „Ich liebe das. Für mich ist jeder Tag Urlaub!“ Er singt ab neun Uhr, netto vielleicht drei Stunden. Dann geht er ins Bett. „Wenn ich sieben Stunden Schlaf bekomme, ist alles gut.“ Krank wird er selten. Wenn doch, tritt er trotzdem auf. „Einmal hatte ich Silvester 40 Grad Fieber. Ich bin trotzdem aufgetreten.“ Er breitet die Arme aus. „Was willst du machen? Spiele ich nicht, sind 200 Menschen im Restaurant ohne Musik!“ Er nimmt einen Schluck aus seinem Weinglas. Es enthält keinen Wein, sondern einen exklusiven Vito-Cocktail, den er in Tino’s Bar mit den Worten „wie immer!“ bestellt: halb Ginger Ale, halb Wasser.

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Vito spielt jetzt eins seiner Lieblingslieder, „Caruso“, eine unendlich traurige Hommage an den Opernsänger dieses Namens aus dem Jahr 1986. „In dieses Stück lege ich immer all meine Gefühle“, sagt Vito. Es plätschert in den Strophen so vor sich hin, sehr viel italienischer Text, sehr schnell, mehr gesprochen als gesungen – doch dann kommt der Refrain: das ganz große Gefühlskino, lange Töne, fast opernhaft gesungen. Vito lehnt sich am Piano dabei weit zurück. Plötzlich ist so etwas wie Stille in der Bar. Am Familientisch ganz hinten drehen sich alle Köpfe.

Jetzt, wo er ihre Aufmerksamkeit hat, hat Vito gewonnen. Kontrastprogramm: „You’ll never find another love like mine“ von Lou Rawls aus dem Jahr 1976, Vito lässt seinen Bariton schnurren und sein Keyboard spuckt einen Beat aus, zu dem sich ausgezeichnet Disco­fox tanzen lässt. Prompt tanzt ein älteres Paar eng umschlungen vor seinem Flügel. Bei „Something Stupid“ kommt ein zweites Paar dazu, bei „That’s Amore“ ein drittes. Das Paar, das sich vorher nicht angeschaut hat, hält jetzt Händchen. Sie hat ihren Sessel Richtung Piano gedreht und schaut ebenso gebannt zu Vito wie ihr Mann.

In der Pause gönnt sich Vito einen Espresso, eine Zigarette und ein paar philosophische Betrachtungen. „Ich hätte reich werden können“, sagt er. „Eine Gönnerin wollte mal zwei Millionen Mark in mich investieren, in Studioaufnahmen und Auftritte. Aber ich habe abgelehnt! Ich bin zufrieden. Ich bereue nichts. Wir kennen unser Schicksal nicht. Wenn du denkst, du hast es in der Hand, irrst du dich.“ Er drückt seine Zigarette aus. „Ich bin kein Ramazotti! Ich bin einfach Vito.“

Dann eilt er zurück in die Bar, setzt sich an die Tasten und spielt den Klassiker „My Way“ von Frank Sinatra. Das unterkühlte Paar, das nun Händchen hält, steht auf und geht zur Tanzfläche.

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