Arzt will Kinder besser schützen „Kindesmisshandlung gibt es auch in Düsseldorf“

Interview | Düsseldorf · Der Obmann der Düsseldorfer Kinder- und Jugendärzte spricht darüber, wie man Kinder besser vor Gewalt schützen kann, welche Kinder er in der Corona-Zeit gegen Grippe impft und warum schon Kinder Depressionen entwickeln können.

 Hermann Josef Kahl studierte an der Heinrich-Heine-Uni und absolvierte seine Facharztausbildung unter anderem an der Uniklinik Düsseldorf.

Hermann Josef Kahl studierte an der Heinrich-Heine-Uni und absolvierte seine Facharztausbildung unter anderem an der Uniklinik Düsseldorf.

Foto: Bretz, Andreas (abr)

In der Kinderarztpraxis von Hermann Josef Kahl an der Uhlandstraße ist das Wartezimmer an diesem Vormittag ziemlich leer. Eltern dürfen wegen Corona nur noch mit Termin in die Praxis und werden dann in ein Behandlungszimmer dirigiert. An der Pinnwand im Eingangsbereich hängen Plakate und Hinweiszettel für Eltern. Eins davon weist auf ein Projekt hin, das Kahl jüngst auf den Weg gebracht hat: Es ist die Webseite https://familienhotlines.de/, wo Eltern von Babys und Kleinkindern gebündelt Informationen über Hilfsangebote in Düsseldorf erhalten, wenn es zum Beispiel Gewalt in der Familie gibt. Für den besseren Schutz von Kindern engagiert sich Kahl seit Jahrzehnten. So war er lange Zeit Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, dort auch Sprecher des Ausschusses Prävention und Frühtherapie. Zudem hat er die Stiftung Kind und Jugend gegründet (zurzeit Vorstandsmitglied), die die wissenschaftliche Evaluation der Arbeit in Kinder- und Jugendarztpraxen fördert sowie Projekte, die Kinder vor Gewalt und dysreguliertem Mediengebrauch schützen.

Herr Dr. Kahl, bringen zurzeit sehr viele Eltern ihre Kinder wegen Corona-Verdachts zu Ihnen?

Kahl Es gibt immer wieder Phasen, wo Eltern verstärkt deswegen kommen, doch in der Regel bestätigt sich der Verdacht nicht. Ich habe eben mit einem Kollegen aus der Uniklinik telefoniert, auch dort gibt es zurzeit so gut wie keine Corona-Fälle. Zurzeit läuft in Hamburg eine Studie, wo in mehreren Praxen getestet wird, ob Antikörper bei Kindern nachweisbar sind und wie die Infektionslage gerade ist. Solche Studien sind wichtig, damit wir belastbare Zahlen haben. Aus meiner Erfahrung und wir sind hier drei Fachärzte in der Praxis, sind es erfreulich wenige Fälle.

Tun sich die Eltern schwer damit, zwischen normalen Erkältungs- und Corona-Symptomen zu unterscheiden?

Kahl Eltern kennen in der Regel ihr Kind und können einen normalen Infekt von etwas anderem unterschieden. Erschwerend kommt aber hinzu, dass sie nun häufig von den Erziehern oder Lehrern zum Arzt geschickt werden bei Symptomen, die nicht für Corona typisch sind.

Welche zum Beispiel?

Kahl Schnupfen und leichter Husten ohne Fieber. Die Eltern bekommen dann eine Bescheinigung von uns, dass das Kind, wenn kein Fieber dazu kommt, am nächsten Tag wieder in die Kita oder zur Schule gehen kann.

Sind Sie denn zum Ausstellen solcher Bescheinigungen verpflichtet?

Kahl Nein, nicht unbedingt. Jeder Arzt handhabt das anders. Wir machen das, um den Stress aus der Umgebung zu nehmen, damit Ruhe einkehrt. Hektik und Nervosität übertragen sich auf das Kind: Und das verkompliziert dann alles.

Was halten Sie von Fieberambulanzen, die Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ins Gespräch gebracht hat? Sind die auch für Kinder und Jugendliche die richtige Anlaufstelle?

Kahl Da sind wir sehr zurückhaltend. Wenn Kinder Fieber haben, sollen sie zu uns kommen und dann schauen wir sie uns gründlich an. Fiebernde Kinder kriegen bei uns nach 12 Uhr einen Termin, so trennen wir sie von den anderen Kindern. Eine Fieberambulanz stellt ja nur fest, dass Fieber da ist.

Fragen viele Eltern jetzt nach, ob sie bei Ihnen ihre Kinder gegen Grippe impfen können?

Kahl Ja, viele wollen nicht, dass die Kinder Grippe und Corona bekommen. Doch wir impfen erst die Kinder, die die Impfung am dringendsten brauchen, etwa die mit Asthma, Immunschwäche, Herzerkrankungen.

Immer wieder schockieren Fälle von misshandelten und missbrauchten Kindern. Ist das auch hier bei uns in Düsseldorf ein Thema?

Kahl Für uns ist das immer ein Thema. Ich habe auch schon beim Jugendamt angerufen, mich beraten lassen und Verdachtsfälle gemeldet. Aber es ist sehr schwer, in der kurzen Zeit, die wir in der Praxis haben, herauszufinden, ob ein Kind misshandelt oder missbraucht wird. Ein schlechter Pflegezustand des Kindes ist oft ein Hinweis darauf, dass zuhause die Gesamtversorgung nicht funktioniert. Dann gehen bei uns sämtliche Antennen an. Wenn wir die Eltern darauf ansprechen, sagen sie aber meist nichts, oft kommt es dann zum Ärzte-Hopping.

Wie sprechen Sie einen Verdacht bei Eltern an?

Kahl Dann sage ich etwa, dass ich sehe, dass das Kind in seiner Entwicklung auffällig ist und blaue Flecken hat und dass wir darüber in Ruhe sprechen sollten. Ich sage dann auch, dass ich der Schweigepflicht unterliege und es für Probleme Hilfen gibt, die nichts mit dem Jugendamt zu tun haben. Erfahrungsgemäß ist es so, dass die Gewalt von den Männern ausgeht. 80 Prozent, wenn nicht noch mehr. Wissen Sie: Die Kinder kommen mit ihren Müttern in die Praxis und die Mütter schämen sich dann, darüber zu erzählen.

Wie kann man sie zum Sprechen bringen?

Kahl Der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Deutsches Forum Kinderzukunft; Wilfried Kratzsch, und ich wollen mit einer Psychologin der Universität Hamburg, die in der Präventionsarbeit erfahren ist, einen Fragebogen entwerfen und wissenschaftlich evaluieren: Er soll dabei helfen, bei den Vorsorgeuntersuchungen früh gefährdete Familien zu identifizieren und an die sogenannten Frühen Hilfen, an besondere Anlaufstellen für Familien, zu verweisen, um Kinder besser zu schützen.

Was wollen Sie darin abfragen?

Kahl Haben Sie Probleme in der Familie, eine zu kleine Wohnung? Haben Sie Probleme mit Erkrankungen? Gibt es Probleme mit dem Partner, mit Alkohol?

Tut die Stadt genug für den Schutz von Kindern?

Kahl In Düsseldorf läuft zum Glück sehr viel, aber die Angebote sind nicht richtig bekannt. Was definitiv fehlt, ist eine regionale Kinderschutzhotline nach den Bürostunden, also abends und nachts und an den Wochenenden. Denn dann brauchen Eltern am meisten Hilfe.

Was passiert dann in den Familien?

Kahl Dann treten die gefährlichen Situationen auf. Das muss man ganz klar sagen: Wenn die Männer erschöpft und eventuell alkoholisiert nach Hause kommen und die Babys schreien und nächtelang nicht oder nicht richtig schlafen, dann bricht das Nervenkostüm irgendwann zusammen, kann es zu Katastrophen kommen. In vier, fünf Städten wie Essen gibt es bereits eine solche Hotline. Düsseldorf und Herr Geisel haben uns aber bislang nicht unterstützt. Bei einer Wahlveranstaltung hat Stephan Keller zugesagt, für eine Hotline zu sorgen, wenn er Oberbürgermeister wird. Das hat mich sehr gefreut. Seine Frau ist ja auch Kinderärztin, vielleicht ist er deswegen auch sehr im Thema.

Sie arbeiten seit den 1980er Jahren als Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin. Was hat sich bei Ihren Patienten am meisten seitdem verändert?

Kahl Anfangs habe ich noch viele Infektionskrankheiten wie Masern gesehen, was jetzt nur noch sehr selten passiert. Jetzt haben wir immer mehr Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten wie ADHS, Angststörungen, Depressionen und Lernstörungen.

Warum entwickeln Kinder Depressionen?

Kahl Ich bin der Ansicht, dass die frühe Fremdbetreuung der Kinder, die teilweise schon mit sechs Monaten beginnt, zu Bindungsbrüchen und zur Entwicklung einer instabilen emotionalen Persönlichkeit führen kann. Stellen Sie sich mal vor: Da ist ein Kind von einem Jahr in der Kita und die Erzieherin, die Hauptbezugsperson des Kindes dort, fällt aus wegen Krankheit, Kündigung, Schwangerschaft oder einem Gruppenwechsel. Ein dreijähriges Kind kann das artikulieren, aber ein Einjähriges ist völlig hilflos und verängstigt. Diese Brüche sind katastrophal für Kinder.

Gibt es wissenschaftliche Studien, die das belegen?

Kahl Aus Studien mit Familien und Au-Pair-Mädchen wissen wir zum Beispiel, dass wenn sie nach zwei Jahren eine Familie mit Kleinkind verlassen, das für die Kinder einer Tragödie gleichkommt: Sie sind völlig außer sich, verängstigt, hilflos, nehmen eine Entwicklung, die sogar eine psychologische Betreuung notwendig machen kann.

Kommunen wie Düsseldorf verfolgen schon seit langem die Strategie, die U-3-Plätze aufzustocken und die Betreuungszeiten in der U-3 wie Ü3-Betreuung zu verlängern, damit Mütter möglichst schnell wieder in den Job zurück können.

Kahl Aber Kinder müssen erst eine gute Bindung zu ihren Eltern, zu ihrer Mutter aufbauen. Wenn die da ist, dann baut sich ein stabiles emotionale System anhand dieser guten Bindung auf. Mit 3, eventuell mit zwei Jahren sollten meiner Meinung nach Kinder erst in die Fremdbetreuung. Homeoffice mit Baby oder Kleinkind halte ich für eine gute Lösung, doch für die Mütter ist das dann eine weitere Belastung. Sie müssten eine Entlastung bekommen, damit das auf längere Zeit funktioniert.

Wie könnte die aussehen?

Kahl Indem die Väter verstärkt in die Erziehung und in den Alltag eingebunden werden oder wenn das gegebenenfalls nicht möglich ist, eine Erzieherin zu den Müttern nach Hause kommt.

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