Häusliche Pflege in Düsseldorf Mit Mama auf dem letzten Weg

Düsseldorf · Viel wird zurzeit über die Pflege diskutiert. Selten geht es dabei um die mehr als drei Millionen ungelernten Vollzeitkräfte, die ihre Angehörigen 24 Stunden am Tag zuhause pflegen. Wir haben eine von ihnen besucht.

 Mehr als drei Millionen Menschen verbringen ihren Lebensabend zuhause, begleitet und gepflegt von Angehörigen.

Mehr als drei Millionen Menschen verbringen ihren Lebensabend zuhause, begleitet und gepflegt von Angehörigen.

Foto: Jens Büttner / dpa

Man rutscht da so hinein. Niemand wacht morgens auf und beschließt: „Ab heute pflege ich die Mama.“ Oder Oma, Opa, den Lebenspartner. Die wenigsten haben sich vorher schon mal mit Dekubitusprophylaxe beschäftigt oder dem Unterschied zwischen Verhinderungspflege und Entlastungsbeitrag. Und dann sitzen sie irgendwann nachts über dem Widerspruch gegen die Ablehnung eines Rollstuhl-Fußsacks und fragen sich, wann genau der Pflegedienst ihr einziger Sozialkontakt geworden ist und warum sie die Preise verschiedener Anbieter für Inkontinenzmaterial im Kopf haben – aber keine Ahnung, was eine Kinokarte kostet.

Vier von fünf der rund vier Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden dem Bundesfamilienministerium zufolge zu Hause gepflegt, davon mehr als drei Millionen von Familienangehörigen. Oft von heute auf morgen stehen diese Pflegenden (von denen Frauen den bei Weitem größten Teil stellen) vor dem Problem der Vereinbarkeit von Pflege, Beruf und eigener Familie. Sie müssen Hilfsmittel beschaffen, Finanzierungsmöglichkeiten ausloten, sich mit Kranken- und Pflegekassen, Gutachtern und Ärzten auseinandersetzen, sie lernen, Arztbriefe zu verstehen und die Wechselwirkungen von Medikamenten. Und pflegen müssen sie natürlich auch.

Angelika hat sich das lange nicht vorstellen können. 400 Kilometer trennten sie von ihren Eltern, zu denen sie ein inniges, aber auch unabhängiges Verhältnis hatte. „Die haben immer ihr eigenes Ding gemacht, zusammen, aber auch jeder für sich“, sagt sie. In den 1980ern von der New-Age-Bewegung inspiriert, gab ihre Mutter Seminare, engagierte sich in der Kommunalpolitik und arbeitete mit ihrem Mann in der eigenen Immobilienfirma. Die gehörte so sehr zur Familie, dass die Töchter früh ahnten: Wenn es die Firma nicht mehr gibt, verlieren unsere Eltern den Halt im Leben.

Für den Vater schien das zuzutreffen. Mit Ende 70 machte sich eine rasch fortschreitende Demenz bemerkbar. Der Hausarzt nahm die Veränderungen nicht sonderlich ernst, sagt Angelika. Er sprach von Alterserscheinungen und Vergesslichkeit und hatte auch keine Bedenken, als der Augenarzt eine Katarakt-Operation gegen den Grauen Star empfahl. Nach der OP war der Vater blind. Heute ist Angelika sicher: „Ein dementes Gehirn kann mit den neuen Linsen nicht kommunizieren.“ Sie hat damals viel gelesen, über die verschiedenen Formen der Demenz, ihre Ursachen und Perspektiven. Ihre Mutter hatte nichts davon wissen wollen. Als der Vater schließlich in ein Heim kam, zog sie in eine betreute Wohnanlage, um ihm nah zu sein, ihn so oft wie möglich zu sich zu holen. Oft war sie ungeduldig und verständnislos mit ihm. Was die Töchter damals für Überforderung hielten, waren die ersten Anzeichen der Demenz ihrer Mutter.

Nur wenige Wochen nach dem Umzug starb Angelikas Vater. Irgendwie hatten die Töchter gehofft, die Mutter käme wieder zur Ruhe, wenn die Trauer sich gelegt hat. Doch die legte sich anders als gedacht. „Sie vergaß sehr schnell, dass er tot war. Immer wieder fragte sie, wo er denn sei.“

Professionelle Pfleger wissen, das man Menschen mit Demenz in solchen Augenblicken nicht korrigiert und in die Wirklichkeit zu ziehen versucht. Validierung ist notwendig, Kommunikation auf der Gefühlsebene, die Realität des Kranken akzeptieren. Für pflegende Angehörige heißt es, die eigene Trauer um den Vater ein Stück weit beiseite zu schieben und zugleich zu akzeptieren, dass einem auch die Mutter entgleitet. Das ist schwer zu ertragen – auch für die Profis, wenn es deren Angehörige betrifft.

In der neuen Wohnung ist Angelikas Mutter nie richtig angekommen. Jeden Morgen packt sie in eine Tasche, was ihr wichtig ist, Bücher, Fotos, Kleidung, und macht sich mit bisweilen fünf Kilo Gepäck auf den Weg. Läuft stundenlang scheinbar ziellos durch die Stadt, checkt in Hotels ein, erzählt alten Bekannten, die sie trifft, dass sie kein Zuhause mehr habe. Dass in ihrer alten Wohnung neue Mieter leben, weiß sie. Aber nicht, wo sie selbst wohnt.

Angelikas Schwester, die nicht ganz so weit weg wohnt, regelt den Alltag, füllt den Kühlschrank, kümmert sich um Wäsche und Papierkram, Angelika sorgt an den Wochenenden bei gemeinsamen Ausflügen für Unterhaltung. Sie engagieren eine Frau, die sich stundenweise um die Mutter kümmert, die selbst nicht mehr aufs Essen oder ihre Kleidung achtet und manchmal nicht bemerkt, wenn die Inkontinenz ein Malheur verursacht.

Sie kaufen ihr ein GPS-Gerät. Aus der Ferne verfolgen die Töchter nun die langen Märsche ihrer Mutter. Wenn sie lange Pausen macht, ruft eine sie an, plaudert ein wenig und erklärt ihr beiläufig den Weg nach Hause. So geht es eine Weile gut, bis die Mutter eines Nachts unbemerkt das Haus verlässt und die Mieter ihrer alten Wohnung aus dem Bett klingelt. Es hätte sehr viel Schlimmeres passieren können, die Mieter sind verständnisvoll. Aber die Töchter ziehen die Reißleine. Sie finden einen Heimplatz für die Mutter, mitten im Städtchen, „da konnte sie ihre Spaziergänge weiter unternehmen, aber wir wussten sie in Sicherheit.“

Weihnachten 2019 kommt sie zu Besuch nach Düsseldorf, und auf der Rückfahrt weiß sie zwar nicht so recht, wohin und woher, aber sie sitzt zwischen Tochter und Enkel „und wirkte richtig glücklich – wir hätten ewig so fahren können“, erinnert sich Angelika mit einem Lächeln an diese besondere Fahrt. Zwei Monate später geht Deutschland in den ersten Lockdown.

„Das war ein Verbrechen an den alten Menschen“, sagt Angelika. Ihre Schwester darf der Mutter ab und zu am Fenster winken. „Wie soll ein Mensch mit Demenz das verstehen?“ Am 80. Geburtstag ihrer Mutter im Juni sieht sie selbst sie erstmals wieder, im Gemeinschaftsraum des Heims, getrennt durch eine Scheibe. „Ich habe sie kaum wiedererkannt.“

Es ist ein Schlüsselmoment für Angelika. Die ist gerade zwischen zwei Jobs, wie man so sagt, eine stressige Führungsposition hat sie gekündigt, noch nichts Konkretes in Aussicht. Sie organisiert einen Tagespflegeplatz in Düsseldorf, richtet ihre Wohnung für die Mutter her und findet für sich eine Teilzeitstelle. Als im Oktober der Umzug ansteht, wird im Heim Corona diagnostiziert. Die Mutter bleibt in Quarantäne. Mit zehn Tagen Verspätung kommt sie in Düsseldorf an. „Und dann war der PCR-Test, den wir der Tagespflege vorlegen mussten, wieder positiv.“ Diesmal gilt die Quarantäne für Mutter und Tochter. Ihr neuer Arbeitgeber hat Verständnis. Angelika hat gerade erst die 20-Stunden-Stelle angetreten.

Wie viele Unternehmer hatten auch die Eltern schon vor Jahren ihre Altersvorsorge in die Firma gesteckt, das nicht üppige Ersparte ist schon bei der Pflege des Vaters zusammengeschmolzen. Mit dem Pflegegeld und Angelikas 20-Stunden-Job kommen sie dennoch ganz gut über die Runden. Für Verbrauchsartikel wie Handschuhe und Desinfektionsmittel zahlt die Pflegekasse einen Zuschuss von 60 Euro, seit die Preise mit Beginn der Pandemie zeitweise um fast das Zehnfache gestiegen sind. Mit Ende der pandemischen Lage ist der Zuschuss seit Januar auf 40 Euro reduziert, die hohen Preise aber bleiben. Als sie noch allein lebte, wäre ein Teilzeitjob nicht in Frage gekommen, sagt Angelika. Das hätte zum Leben nicht gereicht, und für die eigene Rente ist es auch nicht gerade positiv. Aber mit einer Vollzeitstelle wäre die Pflege nicht zu stemmen. Auch im akuten Notfall gibt es für pflegende Angehörige nur einen Anspruch auf unbezahlte Freistellung. Das zumindest will die neue Ampelkoalition ändern. Wer für die häusliche Pflege die Arbeit ganz aufgibt, rutscht jedoch schnell in Hartz IV.

Angelika arbeitet, wenn ihre Mutter vier Mal pro Woche in einer Tagespflege-Einrichtung der Düsseldorfer Diakonie betreut wird. Den Rest der Zeit verbringen sie gemeinsam. Es läuft gut. So könnte es weitergehen.

Doch nach drei Monaten erleidet die Mutter einen Schlaganfall. Als sie im Marien Hospital mit dem Tod ringt, ist Angelika täglich bei ihr; im Januar 2021, Lockdown Nummer 3, hatte auch die Politik verstanden, dass Schwerkranke ihre Angehörigen brauchen. Nicht so die Reha, in der die alte Dame anschließend mobilisiert werden soll. Die steckt sie erst einmal in ein Isolationszimmer, Besuche sind komplett verboten. Viel bringt der Aufenthalt dennoch nicht: Teilweise gelähmt und mit „oraler Insuffizienz“ wird die Mutter nach Hause entlassen, was bedeutet, dass sie weder sprechen noch schlucken kann. Sie wird über eine Magensonde ernährt. Angelika organisiert Infusionsständer, Pflegebett und Rollstuhl – und muss um diesen mit der Krankenkasse streiten, die an der Notwendigkeit zweifelt.

Als Glücksfall erweist sich eine Pflegetrainerin aus der Rehaklinik. „Die hat uns das Leben gerettet“, sagt Angelika. Die Fachfrau empfiehlt ihr Kinästhetik, eine Bewegungstechnik, die die vielfältigen körperlichen Aspekte für den Patienten, vor allem aber auch für die Pflegenden erleichtert. Angelika findet eine Trainerin, irgendwie Zeit für die Übungen und online für Schulungen im Umgang mit Demenz.

Die Pflegefachfrau aus der Rehaklinik macht Hausbesuche, sie hilft Angelika beim Duschen ihrer Mutter, von ihr lernt sie das richtige Lagern, das Katheterspülen, den Umgang mit der Magensonde. Dass die heute nur noch bedingt nötig ist, verdankt sie einem weiteren Glücksfall – ihrer Nachbarin. Die ist Logopädin und hat mit ihrer Mutter geschafft, was in der Reha nicht mehr möglich schien: Sie hat mit der inzwischen 81-Jährigen das Schlucken neu trainiert. „Meine Mutter liebt es, wieder zu essen, zu kauen – das ist ein großes Stück Lebensqualität nach all den Monaten, in denen sie gar kein Mundgefühl mehr hatte“, sagt Angelika. Nur das Trinken ist schwierig geblieben, deshalb bleibt die Sonde, durch die Angelika auch sicherstellen kann, dass ihre Mutter genug Flüssigkeit bekommt.

Dass sie sich vor Jahren für das Leben in einem Wohnprojekt entschieden hat, zahlt sich auch heute für Angelika aus: Die Nachbarschaft nimmt Anteil, sorgt für ein bisschen freundliche Abwechslung, wenn die Mutter im Rollstuhl auf der Terrasse sitzt. Den Fußsack, der ihre Mutter warmhalten soll, wenn sie mit ihr im Winter spazieren geht, hat sie übrigens selbst bezahlt. Die Krankenkasse hielt ihn nicht für notwendig.

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