Wanderung für Menschen mit Demenz in Düsseldorf Das Lernen hört auf, die Füße gehen weiter

Düsseldorf · Menschen, die an frontotemporaler Demenz erkranken, verändern sich mitunter drastisch, manche werden apathisch, andere enthemmt. Statt im Stuhlkreis zu sitzen, gibt eine Gruppe von Erkrankten in Düsseldorf einem Symptom nach – und wandert.

 Die Gruppe bei einer Wanderung durch das Stinderbachtal. Einmal im Monat sind Klaus Lindemann (links) und Bodo Beuchel (rechts) mit Demenzkranken und Angehörigen unterwegs.

Die Gruppe bei einer Wanderung durch das Stinderbachtal. Einmal im Monat sind Klaus Lindemann (links) und Bodo Beuchel (rechts) mit Demenzkranken und Angehörigen unterwegs.

Foto: Anne Orthen (orth)

Birgit bleibt nicht gerne stehen. Dann tritt sie von einem Fuß auf den anderen, schaut nach links und rechts und vor allem nach Volker, sucht seine Hand und seinen Blick. Mal wirkt Birgit ganz offen und lacht ihrem Gegenüber ins Gesicht, mal ein wenig verloren, in ihrer großen Jacke und in der ganzen Welt, die für sie vor allem aus Volker besteht. Doch an diesem Vormittag kommen einige Menschen hinzu, die sie zwar nicht kennt, mit denen sie aber eines teilt: die Demenz. Gemeinsam gehen sie durch den Wald an diesem Herbsttag, die einen langsam, die anderen schnell, Birgit immer vorne mit dabei.

Einmal im Monat treffen sich Klaus Lindemann und Bodo Beuchel mit einer losen Gruppe zum Wandern. Beide haben mal eine Ausbildung zum Krankenpfleger gemacht, beide haben sich über die Jahre zu Demenz-Experten weitergebildet. „Op Jück“ haben sie den Wandertreff genannt, den die Caritas und die Pflegeselbsthilfe Düsseldorf in diesem Frühjahr ins Leben gerufen haben. Mal sind es vier, mal zehn Personen, die mit ihnen durch Wälder und über Wiesen laufen, hauptsächlich Menschen mit frontotemporaler Demenz, kurz FTD, und ihre Angehörigen.

Das ist jene seltene Form von Demenz, bei der Nervenzellen vor allem hinter Stirn und Schläfe, am frontalen und temporalen Lappen des Gehirns absterben. Dort, wo Emotionen und Sozialverhalten gesteuert werden. Das hat wenig mit der Alte-Leute-Krankheit zu tun, für die viele Demenz halten. Die Betroffenen erkranken deutlich früher als bei Alzheimer, manche schon in ihren 30ern, durchschnittlich zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr.

Es ist weniger das Vergessen, das diese Krankheit prägt, vielmehr sind es Veränderungen der Persönlichkeit. Zu Beginn wirken einige oberflächlich und unkonzentriert, teilnahmslos und apathisch, vernachlässigen Job und Familie. Manche werden schnell reizbar und taktlos, andere enthemmt. Einige entwickeln einen Heißhunger auf Süßes, viele vernachlässigen die körperliche Hygiene.

Es gibt auch Betroffene, die merkwürdige Rituale entwickeln und mitunter auch soziale Normen verletzen. Eine Teilnehmerin etwa, sagt Bodo Beuchel, habe kürzlich einen anderen im Gespräch unvermittelt auf den Mund geküsst. Die Symptome können ganz unterschiedlich ausfallen und ausgeprägt sein, je nachdem welche Punkte in der Hirnrinde betroffen sind, erklärt die Deutsche Alzheimer Gesellschaft.

Den Bewegungsdrang, der auch Birgit antreibt, versprüren viele Menschen mit frontotemporaler Demenz, sagt Klaus Lindemann. Bei Selbsthilfegruppen und Gesprächskreisen sitzen die Betroffenen und Angehörigen aber meist in Stuhlkreisen und unterhalten sich. Das Wandern hingegen beruhigt, sagt Lindemann, das Bewegen in der Natur löst die Angespanntheit, die viele quält, – und es schafft Gemeinschaft. Solche Angebote speziell für Betroffene mit FTD sind selten, viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen darum auch aus weiterer Umgebung, einige aus dem Ruhrgebiet, andere vom Niederrhein.

Hier im Wald wird die Krankheit, die sich Stück für Stück durch das Gehirn frisst, die nicht nur Zellen, sondern oftmals auch Träume, Beziehungen, Leben zersetzt, ein wenig kleiner. In Wanderschuhen und winddichten Jacken stapft die Gruppe über die Wege des Stinderbachtals, sie sprechen über das Wetter, die Pferde, die in der Sonne stehen und grasen, die schnatternden Gänse im Teich des Bauernhofs, den sie passieren. „Viel Spaß“, ruft eine Spaziergängerin mit Hund der Gruppe zu, „das Wetter ist herrlich.“

Bei Birgit waren es Freunde, die es zuerst bemerkten. Die sich wunderten, warum Birgit so abwesend wirkte und immer wieder danach fragte, wie denn der Urlaub gewesen sei, obwohl sie gerade von der Reise erzählt hatten. Es folgte eine Reihe von Arztbesuchen, schließlich landeten Birgit und Volker in der Klinik für Neurologie der Uniklinik Essen.

Die Diagnose kann bei frontotemporaler Demenz schwierig sein. Häufig werden die Symptome mit psychischen Störungen wie Depression, Burn-out oder Schizophrenie verwechselt, heißt es von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. Psychologische Tests, die das Gedächtnis, die Sprache und das Denkvermögen auf die Probe stellen, bieten eine Annäherung. Einen großen Teil der Diagnose müssen die Angehörigen leisten, wenn sie den Ärzten von den Persönlichkeitsveränderungen berichten, sagt Klaus Lindemann.

So war es auch bei Birgit, die heute Mitte 60 ist und seit knapp sechs Jahren mit der Krankheit lebt. Mittlerweile, sagt Volker, sei die Diagnose eindeutig. Es heiße oft, dass Menschen mit Demenz wieder wie Kinder werden, sagt Volker. Doch das stimme nicht. „Denn Kinder lernen hinzu, Demenzkranke verlernen nur.“

Maria etwa, die hinter Birgit läuft, die Hände tief in den Taschen ihrer Daunenjacke vergraben, hat die deutsche Sprache verlernt. Als Kind ist sie mit ihren Eltern nach Kanada ausgewandert, war viele Jahre als Englischlehrerin im Ausland tätig, vor allem auf der arabischen Halbinsel. Sie hat mit Sprache und Literatur gearbeitet, hat Wörter in Gedichten und Dramen aufgedröselt, bis sie merkte, dass dabei etwas nicht stimmte.

Bei der Diagnose holte ihr Bruder sie zurück nach Deutschland, um für sie sorgen zu können. Mittlerweile aber spricht sie die Sprache ihres Geburtslandes nicht mehr, sie unterhalten sich nur noch auf Englisch. Solche Sprachstörungen sind bei manchen Betroffenen stark ausgeprägt, sie tun sich schwer damit, Worte zu finden, Dinge richtig zu benennen, einige verstummen völlig.

Das Verlernen zu akzeptieren, sagt Volker, falle ihm besonders schwer. Dass er Birgit selbst Alltägliches immer wieder zeigen, immer wieder erklären kann, und sie danach doch nicht weiß, was zu tun ist. Und dass es ihr und ihm besser geht, wenn er es gar nicht erst versucht.

Volkers Handy klingelt, die Arbeit. Im Moment sei viel zu tun und sein Mitarbeiter krank, sagt er. Natürlich muss er arbeiten, er ist noch zu jung für die Rente, gleichzeitig rennt dem Paar die gemeinsame Zeit mit großen Schritten davon. Acht Jahre vergehen laut Statistik durchschnittlich von den ersten Symptomen bis zum Tod. Gerade eine frontotemporale Demenz werde für viele Angehörige zum Drahtseilakt, sagt Klaus Lindemann. Zwischen Arbeit und Krankheit, Partnerschaft und Pflege.

Wenn die Betroffenen früh erkranken, stecken sie und ihre Partner oft noch mitten in der Berufstätigkeit. Manche geraten in finanzielle Nöte, wenn der Hauptverdiener erkrankt und sie noch weit von der Rente entfernt sind. Viele, die es sich leisten können, verreisen, solange es noch geht, sagt Lindemann. Auch Birgit und Volker waren kürzlich in Frankreich. Sich schöne Momente zu schaffen, trotz allem, das sei die wohl größte Aufgabe, sagt Volker.

Birgit ist noch immer ein fröhlicher, aber auch ein ängstlicher Mensch. Sie geht schnell, aber nur, wenn sie Volkers Hand festhalten kann. An einem See macht die Gruppe Pause, Klaus Lindemann verteilt Haferkekse, Maria findet sie allemal „okay“. Birgit schüttelt den Kopf, Volker steckt ihr den Keks trotzdem in den Mund und sie kaut lachend. Die Demenz lässt sie manchmal nicht mehr richtig denken, aber sie lässt ihnen noch die Freude, an den Enten, die auf dem See landen, an dem Sonnenlicht, das durch die Bäume bricht, am Wandern, wenn die Füße nicht stillhalten wollen.

Info Die Betroffenen Birgit, Volker und Maria heißen eigentlich anders. Auf ihren Wunsch haben wir die Namen geändert.

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