Letzte Videothek in Düsseldorf schließt Der Film-Held

Düsseldorf · "Jimmy" El-Ali schließt seine Videothek in Eller, die letzte in ganz Düsseldorf. Dabei bewahrt er beeindruckend viel Haltung.

 Die geordnete Abwicklung seines Ladens ist dem sanften Mann wichtiger als seine überfällige Reha nach einem Herzinfarkt.

Die geordnete Abwicklung seines Ladens ist dem sanften Mann wichtiger als seine überfällige Reha nach einem Herzinfarkt.

Foto: Hans-Jürgen Bauer

Wer nach nur drei Jahren seinen Laden abwickeln muss, weil die ganze Branche dahinsiecht, in der er fast 30 Jahre lang gearbeitet hat. Wer noch dazu unter einer Trennung leidet, unter Diabetes, den Folgen zweier Schlaganfälle und eines Herzinfarkts, von dem erwartet man alles außer Versöhnlichkeit. Aber als Jamal El-Ali, von allen nur Jimmy genannt, sagt "Tja, das ist das Ende. Der Rest vom Schützenfest", sagt er es zwar traurig, aber er lächelt dazu ein echtes Lächeln.

Links und rechts der Videothek an der Gumbertstraße 179 in Eller läuft es noch, das Geschäft mit den kleinen Fluchten aus dem Alltag, in den Sonnenstudios und Kneipen zum Beispiel. Aber Bräune und Bier sind im Kern analoge Produkte - Filme und Serien nicht. Die Nachfrage ist höher als je zuvor nach Dramen und Komödien, Unterhaltung und Grusel, Action und Romantik, Sex und Science-Fiction in Portionen à 80, 90, 120 Minuten oder gleich staffelweise.

 "Die Freude weitergeben" will El-Ali in seinen letzten Tagen als Videothekar. Filme und Konsolenspiele aller Art verkauft er für kleines Geld, nach Augenmaß.

"Die Freude weitergeben" will El-Ali in seinen letzten Tagen als Videothekar. Filme und Konsolenspiele aller Art verkauft er für kleines Geld, nach Augenmaß.

Foto: Hans-Juergen Bauer

Aber diese Nachfrage wird im Internet befriedigt. DVD und Blu-ray sind für die Masse so out wie VHS-Kassetten. Immer mehr Menschen erscheint es abstrus, bei Wind und Wetter einen bestimmten Laden aufzusuchen, um sich dort gegen Geld bunt verpackte Plastikscheiben auszuleihen, diese in ein Abspielgerät zu legen, wenig später wieder zu entnehmen und zurückzubringen in ein Geschäft mit begrenzten Öffnungszeiten und ohne Parkplätze vor der Tür.

Jamal El-Ali hat eine mächtige Nase, doch normalerweise fällt der Blick in seine großen, freundlichen, dunkelbraunen Augen. Momentan aber dominieren bei dem 55-Jährigen die Augenringe. Seine Angestellten haben neue Jobs.

Nun ist seine größte Sorge, dass die Krankenkasse seine Reha zu früh bewilligt. Im Dezember hatte ihn nach zwei Schlaganfällen noch ein Herzinfarkt ereilt. Drei Wochen Urlaub und Therapie würden ihm gut tun, aber wenn möglich, will er lieber nur eine machen, und er hat sie in voller Absicht erst vergangene Woche beantragt. Denn vorher will er das hier "ehrenhaft beenden", unbedingt.

Weil niemand mehr Jimmys Schätze leihen will, verkauft er sie jetzt, zu so kleinen Preisen, dass die Käufer sich beschenkt fühlen. "Die Freude weitergeben" nennt er das. An alle, die kommen. Heute sind das eine Handvoll Jungs in Kapuzenpullovern mit leuchtenden Augen und gelangweilten Freundinnen.

Ein Yuppie mit langem Gelhaar, der nölend nach Klassikern verlangt, "Al Pacino, weißte? Oder alte Bonds mit Sean Connery". Ein Familienvater, dem er sagen muss: "'Bambi' ist leider schon weg, es tut mir leid." 1989 hatte Jimmy beim Branchenprimus Tümmers angefangen, der zunächst stetig wuchs, parallel zum Gesamtmarkt. 2001 jubelte der Bundesverband Audiovisuelle Medien über eine "bisher nicht gekannte Erfolgsgeschichte" und "ungeahnte Wachstumsimpulse" dank der damals neuen DVD.

Um die Jahrtausendwende gab es mehr als 20 Tümmers-Filialen, zwölf davon in Düsseldorf. Die am Hauptbahnhof war rund um die Uhr geöffnet und lange die umsatzstärkste in ganz Deutschland.

Jimmy stand erstmals am 2. Mai hinter der Theke, erinnert er sich, "direkt nach dem Tag der Arbeit, passt doch". Seinen Job hat er auch als Vergnügen begriffen, als Geschenk: über Filme fachsimpeln, von schlechten abraten, gute empfehlen. Mit Menschen aller Art ins Gespräch kommen und ihnen zuhören wie ein Wirt, sie mit Stoff versorgen wie ein Dealer, bloß dass seine Ware harmlos ist.

El-Ali versuchte es allein

Doch in den vergangenen zehn Jahren kamen die Streaming-Angebote im Netz, zunächst vor allem illegal. Die Tümmers-Filialen schlossen im Jahrestakt. "Und sie waren fast wie meine Kinder", sagt er. Als das Ende nur eine Frage der Zeit war, übernahm er den Laden in Eller auf eigene Rechnung. Kein idealer Standort, aber einer, den er sich leisten konnte.

Ein bisschen länger wäre es vielleicht noch gut gegangen, wenn er damals, Ende 2014, den Existenzgründerzuschuss vom Amt angenommen hätte. Aber dafür hätte er sich zunächst arbeitslos melden müssen. Pro forma. Für einen einzigen Tag, das hätte genügt. "Vielen Dank, aber dann nicht", sagte Herr El-Ali damals und ging und versuchte es allein.

Das Risiko war ihm bewusst, aber er wollte es nicht recht wahrhaben. "Die Hoffnung überstrahlt alles andere", sagt er mild. "Das ist uns angeboren, und es ist doch auch wunderschön." Wie groß die Krise ist, verrät schon eine Google-Anfrage. Nur samstags zwischen 17 und 19 Uhr sind die Balken, die die Besucherzahl seiner Videothek anzeigen, erwähnenswert groß. Bei Montagen und Mittwochen steht: "nicht genügend Daten vorhanden".

Jimmy ist egal, was aus seinem Laden wird

Über die Remscheider Videothek gab es im Mai 2016 die Schlagzeile "Kunden bleiben treu". Ein Jahr später war sie dicht. In Viersen ist von einst acht noch eine übrig. Ehemalige Videotheken werden umgewandelt wie Kirchenbauten. Was aus Jimmys Laden wird, weiß er nicht, und es ist ihm auch egal.

Eigentlich hatte er Fußballprofi werden wollen, er spielte in der Niederrheinliga. Beidfüßig, und überall, wo er gebraucht wurde. "Linksaußen, Stürmer, Vorstopper, Mittelfeld." Doch 1982 verletzte er sich erst am Rücken und sah dann das Spiel zwischen der BRD und Österreich bei der WM in Spanien, das als "Schande von Gijón" in die Geschichte einging, weil beide Mannschaften den Wettkampf einstellten, als das gemeinsame Weiterkommen garantiert war.

"Bis dahin waren die deutschen Spieler Götter für mich, aber da habe ich hingeschmissen - als Spieler, Trainer und Schiri". Zunächst ging er in die Gastronomie, als Kellner und Barmann, und dann 1983 von Essen nach Düsseldorf. Ein wenig erinnert es ihn an die Heimatstadt seiner Kindheit, Beirut. Die Hauptstadt des Libanon galt damals, vor dem endlosen Krieg, als "Paris des Nahen Ostens".

Als er heiratete und erstmals Vater wurde, wechselte Jimmy vom Kneipentresen hinter den der Videothek, wo er seine Berufung fand. "Die Stunden habe ich nie gezählt", sagt er, ohnehin ist er kein großer Fan von Zahlen. Der Laden sei wohl um die hundert Quadratmeter groß, schätzt er, nachdem er ihn mit großen Schritten grob vermessen hat. Ein paar tausend DVDs, Blu-rays und Videospiele warten noch auf Käufer.

Von "Anna Karenina" bis zu Zombie-Horror, von der italienischen Komödie bis zum neuseeländischen Neo-Western. Den Kühlschrank hat er verschenkt. Die Regale einst maßangefertigt, gehen gratis an eine Jugendhilfeeinrichtung.

Er selbst werde schon klarkommen, sagt er: "Wenn du hinfällst, musst du wieder aufstehen." "Der liebe Gott lässt keinen allein." "Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere." Für El-Ali sind das keine Phrasen, sondern Glaubensgrundsätze.

Sozialarbeit könnte er sich gut vorstellen, auch einen Intensivkurs als Immobilienmakler hat er einmal gemacht, mit IHK-Zertifikat. "Wer sich für nichts zu schade ist, findet auch einen Job", sagt er. "Wenn es sein muss, fege ich die Straße." Mehr als um sich selbst sorgt er sich um den verbleibenden Einzelhandel, ja die Gesellschaft als solche. "Die Menschen haben keine Zeit mehr heutzutage", sinniert er, "Wir entfremden uns voneinander."

Jimmy selbst widersteht Netflix und vor allem Amazon. Er kauft in Läden ein. Bei Menschen. Dass die ihre Arbeitsplätze behalten ist ihm wichtiger als seine Bequemlichkeit.

Sein Lieblingsfilm ist "Papillon", das humanistische Gefangenendrama von 1973 mit Steve McQueen und Dustin Hoffman. "Da steckt alles drin: Rebellion, Durchhaltevermögen, und schließlich: Erfolg!"

Der Erfolg eines Menschen misst sich für den vierfachen Vater daran, wie viel Zeit und Liebe er seinen Kindern widmet. "Aus diesen beiden Zutaten gießen wir ihnen ein starkes Fundament."

Zum Schluss fragt Jimmy leise, ob der Artikel ohne Foto erscheinen könne, er stehe nicht gern im Mittelpunkt. Aus Mitgefühl mit dem Reporter willigt er schließlich doch ein. Der Fotograf solle sich aber nicht wundern: Er drücke jeden Anruf weg, aus Prinzip. "Ich hab doch eine Flatrate", erklärt er strahlend, "und der, der mich anruft, vielleicht nicht."

Wenn er demnächst Lust auf einen Film bekommt, fährt er zu "Silvia's Videoladen" nach Hilden. So lange der noch geöffnet ist.

Der Räumungsverkauf läuft noch bis Samstag

Öffnungszeiten Der Ausverkauf läuft noch bis Samstag, bis dahin ist die letzte Videothek der Stadt an der Gumbertstraße 179 in Eller täglich von 10 bis 22 Uhr geöffnet.

Tümmers-Ende Allein der Branchenprimus Tümmers hatte einst 22 Filialen und mehr als 100 Mitarbeiter. 2016 machten die letzten in Derendorf und Unterbilk dicht.

Talfahrt 1991 gab es 8000 Videotheken im Land. 2016 waren es nur noch 933, davon 180 in NRW.

(tojo)
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