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Ambulante Pflege in Düsseldorf Ein bisschen Nähe in der Pandemie

Düsseldorf · In der Pflege kommt man sich nah – daran hat auch Corona nichts geändert. Wir haben einen ambulanten Pflegedienst in Düsseldorf begleitet und festgestellt: Für manche ist das Personal so wichtig wie noch nie.

 Pflegerin Aljona Scherer misst bei Gisela Wintzen den Blutdruck. Die Masken sind Vorschrift.

Pflegerin Aljona Scherer misst bei Gisela Wintzen den Blutdruck. Die Masken sind Vorschrift.

Foto: Anne Orthen (orth)/Anne Orthen (ort)

Wenn man jemanden pflegt, muss jeder Handgriff sitzen. Beim Waschen, bei der Wundpflege oder beim Blutdruckmessen kommt es auf Präzision an – und auf Schnelligkeit. Viel Zeit haben die Pflegerinnen und Pfleger meist nicht, wie viel, bestimmen die Richtlinien der Krankenkassen. „Aber wenn ich noch fünf Minuten plaudern will oder es mal länger dauert“, sagt Aljona Scherer vom ambulanten Dienst Pflegeengel am Rhein in Düsseldorf und zuckt mit den Schultern, „dann dauert es eben länger.“ Dann legt sie ihrer Patientin Gisela Wintzen einen Kompressionsstrumpf an. Dafür breitet sie eine kleine Decke vor dem Sofa aus, auf dem die alte Dame sitzt, kniet sich darauf, zieht ihr die Socken aus, stülpt eine Anziehhilfe aus leichtem Stoff über den rechten Fuß, einen Zehenschutz über den kleinen Zeh und zieht ihr anschließend einen hautfarbenen Kompressionsstrumpf an. Dann ist der linke Fuß dran. Die Strümpfe dürfen keine Falten werfen, das kann zu Druckstellen und Schmerzen führen. Nach nicht einmal einer Minute ist Scherer fertig, faltenfrei, versteht sich.

Währenddessen plaudert die examinierte Altenpflegerin – darauf legt die 32-Jährige viel Wert – mit der alten Dame, fragt sie, ob sie noch was tun kann. Sie kann. Gisela Wintzen lebt alleine, ihr Mann im Pflegeheim. Sie musste im vergangenen Jahr für mehrere Wochen ins Krankenhaus, bis sie wieder einigermaßen fit war, dauerte es noch länger. „Ich habe es einfach nicht mehr geschafft, mich zu kümmern“, sagt die 83-Jährige. Ihr ist anzusehen, wie schwer ihr das immer noch fällt. Im Januar haben die beiden diamantene Hochzeit gefeiert, im Wohnzimmerregal stehen noch die Glückwunschkarten, fein säuberlich sortiert, und Fotos von ihm und der gemeinsamen Tochter. Jetzt lebt er in einem Heim der Caritas und ist in dieser Woche umgezogen – und Gisela Wintzen erreicht ihn am Telefon nicht mehr. Aljona Scherer verspricht, sich zu kümmern. „Und darauf kann man sich verlassen“, sagt die 83-Jährige.

Von ihrer Pflegerin hat sie sich davon überzeugen lassen, wegen ihres vor allem nachts gefährlich hohen Blutdrucks einen Facharzt aufzusuchen. Auch die maßgefertigten Kompressionsstrümpfe waren Scherers Idee. „Ich bin routiniert und habe oft Ideen, was helfen könnte“, sagt sie dazu. Mit 14 arbeitete sie das erste Mal im Pflegebereich, damals als Praktikantin. Es folgten eine Ausbildung und eine Stelle in einem Seniorenheim. Seit rund zehn Jahren ist sie in der ambulanten Pflege tätig, inzwischen als stellvertretende Pflegedienstleiterin. Etwas anderes kann sie sich nicht vorstellen.

An ihrem Beruf mag sie besonders die Nähe zu ihren Patienten. Diese sieht sie meist mehrfach die Woche, weiß, wie die Medikamente sortiert sind und wo das Verbandszeug aufbewahrt wird, kennt ihre Wohnungen und Geschichten. So auch bei Gisela Wintzen, die sagt: „Wir haben schon viel Schlimmes überstanden zusammen.“ Nicht nur wegen der Pandemie ist die alte Dame viel allein. Sie benutzt einen Rollator, raus traut sie sich kaum alleine, in den öffentlichen Nahverkehr schon gar nicht. Und ein Taxi kann sie sich oft nicht leisten. Neulich war die Tochter für zwei Wochen da, aber das geht auch nicht allzu oft. „Ich fühle mich oft einsam“, sagt sie schlicht. Zwei Mal am Tag kommt der Pflegedienst vorbei, hilft auch bei der Hauswirtschaft, räumt auf und putzt. Die Wohnung ist ordentlich, bevor sie sie betritt, zieht sich Aljona Scherer blaue Überschuhe aus Plastik an, an der Tür steht Desinfektionsmittel bereit.

Während der Betreuung tragen Pflegerin und Patientin eine FFP2-Maske. So ist die Vorschrift, auch wenn beide schon den vollständigen Impfschutz haben. Für mehr Distanz sorgt das nicht, wer die beiden beobachtet, könnte meinen, die Frauen verbinde eine langjährige Freundschaft. Nach etwa 20 Minuten muss Scherer weiter. Sie misst noch den Blutdruck – „das sieht gut aus“ – und packt ihre Sachen. Gisela Wintzen sieht ein bisschen traurig aus – freut sich aber auf den Besuch der Pflegerin am Nachmittag. „Da sieht man zwischendurch wenigstens auch mal jemanden“, sagt sie und winkt zum Abschied.

Mit dem Auto geht es zur nächsten Patientin, zwischendurch raucht Aljona Scherer rasch eine Zigarette. Regina Müller, die ihren echten Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, lebt im Erdgeschoss ihres Hauses, gleich nebenan wohnt die Tochter mit ihrer Familie. Besonders ins Herz geschlossen hat sie ihren Enkel, „so ein guter Junge“, sagt sie immer wieder. Ihr hilft der Pflegedienst unter anderem beim Waschen und Anziehen. Für längere Strecken braucht die 84-Jährige einen Rollstuhl, deshalb bleibt sie meist lieber ganz zu Hause. Und schaut Fernsehen, am liebsten Tiersendungen. „Tiere suchen ein Zuhause“ sei ihre Lieblingssendung, erzählt Scherer, ihre Patientin nickt, „die Tiere sind so entzückend“, sagt sie und lacht. In der Fernsehzeitung hat Müller sich die nächsten Sendungen schon angestrichen.

Auch sie braucht Kompressionsstrümpfe. Während Scherer diese anlegt, fällt ihrer Patientin auf, dass die Pflegerin die Haare offen trägt. „Schwester“, sagt Müller, „ich hätte Sie fast gar nicht erkannt. Aber schön sieht das aus.“ Regina Müller hat früher selbst als Pflegerin gearbeitet, die Anrede wirkt wie ein Kompliment. „Ich bin froh, dass mir geholfen wird“, sagt sie. Scheu vor körperlicher Nähe kennt sie nicht. Wichtig ist Müller aber, dass es nett zugeht. „So wie ich mit anderen umgehe, so wünsche ich es auch bei mir.“ So habe sie das früher auch auf der Arbeit gehandhabt, erzählt sie. „Auch wenn wir mal drei Schwestern weniger waren, habe ich mir die Zeit genommen und den Patienten auch mal die Hand gestreichelt.“ Und ab und zu sei sie auch mal mit einem Patienten Kaffee trinken gegangen, wenn sie das Gefühl gehabt habe, der brauche das jetzt.

Auch Scherer lassen die Geschichten ihrer Patienten nicht kalt. Allzuviel Nähe möchte sie aber nicht zulassen – und wehrt sich, wenn jemand ihr zu nahe kommt. Die Sexualität lasse im Alter nicht unbedingt nach, der Umgang mit sexuellen Übergriffe sei schon in der Ausbildung ein wichtiges Thema, zum Glück. Viel mehr möchte sie dazu nicht sagen – nur das noch: Sie habe sich immer erfolgreich zur Wehr gesetzt, wenn eine Hand mal da landete, wo sie nicht hingehörte. „Richtig so“, sagt Regina Müller. „Die Schwestern sind Engel auf Erden, die müssen sich nicht alles gefallen lassen. Schade nur, dass sie so schlecht bezahlt werden.“

Das sei zwar in der Branche ein großes Problem, erklärt Aljona Scherer auf dem Weg zum nächsten Termin, sie könne sich aber nicht beklagen. Als Pflegedienstleiterin werde sie gut bezahlt und mit ihrer Expertise von Kollegen und Vorgesetzten geschätzt. „Das ist leider aber überhaupt nicht selbstverständlich“, sagt sie, „und es ist auch das erste Mal, dass ich mich bei einem Arbeitgeber richtig gut behandelt fühle.“ Vorher habe sie sich oft übernommen, zu viele Termine in einen Arbeitstag gequetscht und irgendwann mit starken Rückenschmerzen und Erschöpfung zu kämpfen gehabt. Doch damit sei nun Schluss, die Termine seien so verteilt, dass sie sich Zeit nehmen könne für die Patienten und auch mal Dinge erledigen, die nicht auf dem Plan stehen.

So wie bei Liane Rüger. Die 61-Jährige ist körperlich stark eingeschränkt, hat Wasser in den Beinen. Sie sammelt Playmobil-Figuren und andere Deko-Gegenstände, den Haushalt in ihrer kleinen Wohnung macht sie alleine, so gut es geht. Vor Kurzem ging es nicht mehr gut, überall türmten sich die Sachen. Seit ein paar Wochen wird Rüger vom Pflegedienst unterstützt – und Aljona Scherer half ihr erst einmal, die Wohnung aufzuräumen. Brachte Müll runter, sortierte Medikamente und Verbandszeug, entrümpelte den Balkon. „Das gehört eigentlich nicht zum meinem Job“, sagt Scherer, „aber ich habe es trotzdem gemacht, um Frau Rüger zu helfen.“

Sie unterstützt die 61-Jährige auch dabei, Termine auszumachen, beim Hausarzt zum Beispiel, aber auch beim Physiotherapeuten. Aufgrund eines Kindheitstraumas hat Rüger Angst vor dem Krankenhaus, diese Termine fallen ihr nicht leicht. Dabei ist sie ist ein aufgeschlossener Mensch, erzählt viel, von ihrer Jugend in Gerresheim, von ihrem Engagement im Chor und bei der SPD, von ihrer Schwester, die um die Ecke wohnt und die sie coronabedingt derzeit nur selten sehen kann.

Aljona Scherer kommt ihr nahe, wenn sie da ist, sie behandelt einen Ausschlag mit Creme, wechselt Verbände und legt ihr Strümpfe an, mit einer besonderen Technik, um die Wassereinlagerungen zu behandeln. Mit anderen Pflegediensten hat Liane Rüger schlechte Erfahrungen gemacht. „Die waren immer nur sehr kurz da, haben gesagt ,hier sieht es aber schlimm aus’ und sind wieder gegangen“, sagt die 61-Jährige. „Die haben mich immer nur runtergemacht.“ Scherer habe den Zustand der Wohnung hingegen nicht nur bemerkt, sondern auch direkt geholfen. Auch wenn das etwas mehr Zeit gekostet hat, als sie eigentlich gehabt hätte. „Aber die muss man sich dann eben nehmen“, sagt Scherer. Heute geht das nicht, nach 15 Minuten muss sie zum nächsten Termin. Aljona Scherer packt ihre Sachen, rückt noch eine Playmobil-Figur zurecht und verabschiedet sich. Am Auto nimmt sie drei Züge von ihrer Zigarette, hört kurz ihre Mailbox ab und streckt den Rücken durch. Dann geht’s weiter.

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