So wohnt Düsseldorf "Dieses Haus spricht zu uns"

Düsseldorf · Pfarrer Jonas Marquardt wohnt mit seiner Familie im alten Kaiserswerther Pastorat, in dem schon Sozialreformer Theodor Fliedner wirkte. In dem Gebäude kann man den Geist der Geschichte spüren.

Düsseldorf: Das alte Kaiserswerther Pastorat
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Das alte Kaiserswerther Pastorat

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Foto: Hans-Juergen Bauer

Perfekt ist anders. Keine Frage, dieses Haus hat seine Macken - nach heutigen Maßstäben. Die Heizkosten sind enorm, die Böden im ersten Stock schief, und bohrt man in die Decke, rieselt Hühnermist zu Boden, gängiges Dämmmaterial im 18. Jahrhundert. Aber dafür hat dieses Haus etwas zu bieten, das mehr zählt als bauliche Unzulänglichkeiten: den Geist der Geschichte. Oder wie sein Bewohner Pfarrer Jonas Marquardt sagt: "Es ist so viel Segen im Haus." Denn genau dort, wo er gerade in seinem Wohnzimmer steht, lebte ein großer Vorgänger: Theodor Fliedner, Kaiserswerther Pastor, Sozialreformer und Visionär.

Dieses Haus an der heutigen Fliednerstraße wurde 1787 gebaut, "offenbar nicht von Fachleuten", vermutet Jonas Marquardt. Es gehörte wohl zur ersten evangelischen Ansiedlung im katholischen Kaiserswerth, "weil die Gemeinde zum Ende des 18. Jahrhunderts Gewerbe anziehen wollte, das Geld brachte." Seidenweber waren da besonders vielversprechend, sie hatten ihre Kunst aus Frankreich mitgebracht, waren allerdings allesamt Protestanten. "Man hat damals lange überlegt, ob man es wirklich wagen wollte, dass sie nach Kaiserswerth kamen." Schließlich siegte der Kommerz, die Seidenweber bekamen Grundstücke auf dem Festungswall, auf einem aufgeschütteten Terrain mit vielen Schichten, "das eigentlich gar nicht geeignet war, um darauf zu bauen."

Schon zu Beginn wohnte in diesem Haus ein Pastor, auch wenn der von nur elf evangelischen Familien nicht leben konnte - "die Fluktuation war entsprechend groß, sobald einer eine andere Gemeinde fand, war er weg." Auch der junge Theodor Fliedner, der 1821 nach Kaiserswerth kam, existierte unter extrem bescheidenen Bedingungen. "Aber er wurde der erfolgreichste Bettler des 19. Jahrhunderts", so Marquardt. Seine Kollektenreisen nach Holland und England waren so erfolgreich, dass er die Gemeinde allein von den Zinsen 70 Jahre lang erhalten konnte.

Und das Pfarrhaus war seine Schaltzentrale, hier plante er seine Reisen, hier entwickelte er seine Zukunftskonzepte - für eine moderne Krankenpflege, Fürsorge für Kinder und Alte.

Seine Frau Friederike brachte in diesem Haus elf Kinder zur Welt, sie hat den alten Maulbeerbaum, dessen Stämme sich noch heute dicht über dem Erdboden winden, einst in den Garten gepflanzt. Zwischen den winterlich-kahlen Ästen ist ein barockes Gartenhäuschen zu sehen - auch ein Ort mit Geschichte. "Dort war der erste Kindergarten im Deutschen Reich", weiß Pastor Marquardt. Vorher diente dieser verwunschene Ort aber noch einem ganz anderen Zweck: Friederike musste mit ansehen, dass acht ihrer Kinder starben, ins Gartenhäuschen ließ sie die Särge bringen - ein Platz ihrer stillen Trauer.

Heute ist das Pfarrhaus wieder von Kinderlachen erfüllt: Pfarrer Marquardt und seine Frau Dorothee haben zwei Töchter und einen Sohn, außerdem gehören noch zwei Hunde und ein altersschwacher Kater zur Familie. Das Wohnzimmer wirkt mit seiner viktorianischen Atmosphäre, als habe Fliedner persönlich die Möbel ausgesucht, "aber das haben alles wir mitgebracht, als wir vor 15 Jahren einzogen", so Marquardt - wie das Biedermeier-Sofa mit tiefrotem Samtbezug, einen Schrank mit alpenländischer Malerei aus dem 18. Jahrhundert und den Biedermeier-Esstisch, an dem viele Gäste Platz finden. Und überall Hinweise, dass unter diesem Dach Kinder leben. So versammeln sich im Vitrinenschrank Miniaturfiguren der "Häschenschule" direkt vor der Goethe-Ausgabe.

Einen Fernseher sucht man in diesen Räumen vergebens, stattdessen bieten Musikinstrumente - ob Klavier, Cembalo, Horn und Flöten - einen eindeutigen Hinweis auf die Vorlieben der Familie: "Wir spielen alle ein Instrument und singen viel", sagt der Pfarrer mit volltönender Stimme.

Die Vergangenheit ist spürbar, auch wo man sie nicht sieht: Im ersten Stockwerk schläft die jüngste Tochter in dem Raum, in dem Fliedner einst mit den Blattern todkrank daniederlag. Woher man weiß, dass es ausgerechnet dieses Zimmer war? "Es ist bekannt, dass er seinen Kindern zuwinkte, die wegen der Ansteckungsgefahr im Haus gegenüber untergebracht waren. Und diesen Blick hat man nur von diesem Fenster."

Selbstverständlich ist der berühmte Vorgänger an seiner alten Wirkungsstätte auch zu sehen, sein Konterfei hängt im holzvertäfelten Treppenhaus - in ständiger Anwesenheit. Zu spüren ist er für die Bewohner sowieso, wie hatte Jonas Marquardt das formuliert? "Dieses Haus spricht zu uns."

(RP)
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