Interview "Die Politik beleidigt Studenten"

Düsseldorf · Alt-Rektor spricht im Interview über seine Sicht auf den Bildungsstreik. Er geht mit sich und seinen Kollegen selbstkritisch ins Gericht. Die Hochschulen müssten nun Angebote machen und Studiengänge auf mindestens acht Semester verlängern.

 Der Germanist Get Kaiser (68) lenkte 20 Jahre als Rektor die Geschicke der Heinrich-Heine-Universität. 2003 übergab er das Amt an Alfons Labisch.

Der Germanist Get Kaiser (68) lenkte 20 Jahre als Rektor die Geschicke der Heinrich-Heine-Universität. 2003 übergab er das Amt an Alfons Labisch.

Foto: Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen

Herr Kaiser, Ihr Büro liegt direkt neben dem Hörsaal 3D, der besetzt wurde. Wie haben Sie den Protest der Studierenden erlebt?

Kaiser Ich habe noch abends vor der Räumung mit den Studierenden gesprochen. Wir alle wussten, dass die Polizei kommt. Deshalb mischten sich im Raum Protest und Traurigkeit. Aber ich habe wieder einmal bemerkt, dass die Studenten im Kern für eine bedeutende Sache demonstrieren.

Was ist Ihrer Meinung nach der Kern?

Kaiser Wir haben unseren Studenten die akademische Freiheit, die in Deutschland lange herrschte, weggenommen. Sie wurde ersetzt durch rabiat verschulte Studiengänge, in denen es nicht mehr möglich ist, sich für ein Semester bezaubern und bilden zu lassen, etwa durch die Begegnung mit Hölderlin. Nein, heute wird Studenten vorgeschrieben, wem sie zu begegnen haben und in welcher Zeit. Das ist ein unglaublicher Verlust, der mich und viele Professoren betrübt.

Wenn viele Hochschullehrer derselben Meinung sind wie ihre Studenten, hätten sie sich dann nicht stärker solidarisieren müssen?

Kaiser In der Tat. Wir haben uns bei der Umstellung auf Bachelorstudiengänge einschüchtern lassen von den Akkreditierungsagenturen. Alle hätten viel früher protestieren müssen, auch die Studenten. Stattdessen haben wir uns wie die Schafe behandeln lassen, und ich schiebe die Schuld gar nicht ab auf den Staat und das Land. Man musste Bologna nicht so umsetzen wie es gemacht wurde.

Was erwarten Sie von einer Reform der Reform?

Kaiser Wir müssen diese kulturelle Schande, dass wir unseren Studierenden die Mündigkeit gestohlen haben, rückgängig machen und mit ihnen die Studiengänge umgestalten. Dabei werden wir zugeben müssen, dass man in sechs Semestern kein komplettes akademisches Studium absolvieren kann. Acht Semester sind das Minimum, das wir anbieten müssen.

Trägt die Politik zu einer Lösung bei, wenn sie das Bafög erhöht und zum Bildungssparen aufruft?

Kaiser Ich bin empört über diese Reaktion. Die Politik behandelt die Studenten wie die Milchbauern und denkt, dass sie mit einer kleinen Bafög-Erhöhung genau so ruhig sind wie diese. Das ist beleidigend. Die Politik geht meiner Meinung nach schon lange einen falschen Weg, indem sie sonntags die Bildungsrepublik verspricht und montags die Mittel kürzt. Die deutschen Universitäten sind chronisch unterfinanziert, und Vorschläge wie das Bildungssparen gehen völlig an der Sache vorbei.

Viele Stimmen behaupten, die Streikenden würden nur einen kleinen Teil der Studenten repräsentieren ...

Kaiser In der Tat sind die meisten von ihnen Geisteswissenschaftler, weil sie unter der Umgestaltung besonders zu leiden hatten. Aber eigentlich fordern alle mehr Selbstbestimmung. Ich war immer stolz auf unsere deutschen Studierenden, weil sie verantwortungsbereiter und mutiger waren als etwa die Amerikaner, die immer schon in diesem Laufrad des permanenten Faktenlernen eingesperrt waren. Gewiss haben bei uns viele zu lang studiert, aber sie sind echte Persönlichkeiten geworden.

Auch zu Ihrer Zeit als Rektor gab es Konflikte, aber sie konnten im Dialog gelöst werden. Was ist heute anders?

Kaiser Wir hatten eine gewisse Neigung zum Dialog, nicht nur eine Verpflichtung. Dialog war ein großes Schlagwort. Ich habe die Besetzungen meistens so gelöst, dass ich länger mit denen gesprochen habe, als sie mit mir sprechen wollten. Zum Glück war ich nie gezwungen, die Polizei rufen zu müssen.

Hätten Sie es dann genau so gemacht?

Kaiser Ich hätte vielleicht noch drei Tage länger diskutiert, aber im Grunde ja.

Durch Ihre 20-jährige Amtszeit als Rektor haben Sie die Heine-Universität geprägt wie kein zweiter. Wo sehen Sie die Zukunft der Hochschule?

Kaiser Für die Universität war es ein schwerer Schlag, dass sie beim Exzellenzwettbewerb völlig leer ausgegangen ist. Dabei spielen wir vor allem mit den Lebenswissenschaften in der Top-Liga. Wir sollten in der nächsten Runde erfolgreich sein. Der neue Antrag des Rektorats lässt hoffen. Gut fände ich es außerdem, wenn die juristische Fakultät ausgebaut würde. Sie ist ausgezeichnet, aber eine der kleinsten bundesweit.

Wie kann Ihre Gesellschaft von Freunden und Förderern zur Profilierung beitragen?

Kaiser Der Freundeskreis ist einer der größten in Deutschland und deshalb ein wichtiger Unterstützungsfonds. Zu seinen Großtaten gehört zum Beispiel der Erwerb und die Renovierung von Schloss Mickeln als Gästehaus und Tagungsort. Die Düsseldorfer Bürgerschaft hat uns insgesamt 18 Stiftungen anvertraut und unterstützt damit junge Forscher. Im Moment werbe ich vor allem um Spenden, denn die Professoren bitten mich in großer Zahl um Unterstützung für Projekte. Leider muss ich viel zu vielen absagen. Deshalb werbe ich herzlich bittend bei den Düsseldorfern um Spenden.

Sie haben sich immer für die deutsch-israelischen Beziehungen eingesetzt. Welchen Beitrag zur Verständigung kann der neue Düsseldorfer Studiengang "European Studies" leisten?

Kaiser Das ist ein sensationelles Projekt. Weil im Nahen Osten israelische, palästinensische und jordanische Studenten nicht zusammen lernen können, treffen sie sich jetzt auf deutschem Boden. Das ist so viel praktische Verständigung, wie ich es nirgendwo gesehen habe in diesem verzweifelten Nahen Osten. Der Studiengang kann das große Modellprojekt werden für viele Länder.

Stefanie Winkelnkemper führte das Gespräch

(RP)
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